Maurice kauerte nach wie vor oben auf seinem Aussichtsposten und versuchte, etwas von den Vorgängen in der fünf Meilen nördlich gelegenen Ankerbucht zu erkennen. Er sah aber nur das Feuer und den Rauch, die immer intensiver aufzusteigen schienen.
Brassens vernahm einen beunruhigenden Laut hinter seinem Rükken, wollte herumfahren, aber da war es schon zu spät für ihn. Etwas sauste schwer in seinen Nacken nieder, und er brachte nicht einmal mehr einen Laut hervor, ehe er bewußtlos zusammenbrach.
Der Seewolf trat an Brassens’ Stelle und blickte zu Maurice auf, der seinerseits gespannt nach Nord-Nord-West spähte.
„Hör dir das an“, sagte Maurice. „Und dabei heißt dieses Meer rund um die Inselwelt das ‚Meer der Ruhe‘. Ist das nicht ein Hohn?“
„Ja“, antwortete Hasard und zog seine doppelläufige sächsische Reiterpistole. „Das ganze Leben ist manchmal ein einziger Hohn, nicht wahr?“
Maurice ließ entgeistert den Messingkieker sinken. Er sah nach unten und erblickte zu seinen Füßen den schwarzhaarigen Hünen. Er wollte seine Miqueletschloß-Pistole zücken, die griffbereit vorn im Gurt steckte, wurde aber durch eine Geste des Seewolfs gebremst.
Hasard hatte die Reiterpistole gehoben und vorgestreckt. Die Mündungen zielten bedrohlich auf Maurices Unterleib.
„Wer – wer bist du?“ stammelte der Pirat, aber er war sich im selben Moment der Dummheit bewußt, die dazu gehörte, solch eine Frage zu stellen.
Hasard sagte: „Ich erkläre es dir vielleicht später. Steig jetzt ’runter von deinem Ast – und wage bloß keine Dummheiten. Es könnte das letzte Mal in deinem Leben sein, daß du einen idiotischen Trick versuchst.“
Siri-Tong, Dan O’Flynn, Smoky und Matt Davies traten jetzt ebenfalls aus dem Dickicht auf die kleine Lichtung, und damit war es um Maurices Fassung endgültig geschehen. Er ließ den Messingkieker fallen, kletterte vom Baum und hob die Arme. Er begriff, was geschehen war. Die Engländer hatten sie hereingelegt, und zwar gründlich. Sie waren hinter der südlichen Landzunge, wo sie nicht mehr beobachtet werden konnten, mit einem Beiboot am Ufer gelandet. Dann hatte das Ablenkungsmanöver ihrer Galeone begonnen, und sie hatten seelenruhig durch den Inselurwald bis hierherauf marschieren können.
Zweifellos hatte das Mädchen Alewa ihnen verraten, daß es hier oben, über dem Hauptdorf, einen Aussichtsplatz gab.
„Wir gehen ’runter zum Dorf“, sagte Hasard. „Dan und Smoky, ihr nehmt diesen Fettwanst hier mit.“ Er wandte sich wieder an Maurice und erklärte ihm in seinem besten Französisch, was er von ihm verlangte.
Maurice sah auf die doppelläufige Radschloßpistole, die immer noch auf seinen Bauch gerichtet war, und zweifelte keinen Moment daran, daß dieser schwarzhaarige Teufel mit den eisblauen Augen auch wirklich abdrücken würde, falls er seine Befehle nicht befolgte. Hasard hätte niemals auf einen wehrlosen Menschen geschossen, auch auf den größten Schurken nicht, aber das konnte Maurice nicht ahnen. Maurice wußte nur das eine: daß er nämlich das Leben so heiß und innig liebte wie nie zuvor und nicht sterben wollte.
Er nickte und sagte leise: „Ich tue alles, was ihr von mir verlangt, wenn ihr mich leben laßt.“
Die beiden Wachtposten, die vor dem großen Tor der Palisade zurückgeblieben waren, blickten sich verdutzt an, als im Dickicht plötzlich Maurice auftauchte und ihnen zuwinkte.
„Hier“, zischte Maurice. „Seht euch an, was ich geschnappt habe. Ein Weibsbild. Kommt her und nehmt sie gefangen.“
Die beiden Piraten schritten gleichzeitig los und blieben zwei Schritte von Maurice entfernt stehen, um sich über die schwarzhaarige Frau mit den exotischen Zügen zu beugen. Sie lag zu Maurices Füßen im Dickicht. Wer war sie? Woher kam sie? Wie hatte Maurice sie überwältigen können?
All diese Fragen, die die Piraten sich im stillen stellten, blieben leider unbeantwortet. Die Schwarzhaarige kam nämlich ganz überraschend zu sich, schnellte hoch und hieb dem rechten Posten die Hand so hart gegen die Schläfe, daß dieser umfiel und nicht mehr aufstand.
Der links stehende Kerl wollte protestieren, zur Waffe greifen, handeln, aber alles war zu spät, viel zu spät. Wie der Teufel schoß ein schwarzhaariger Riese aus dem Gebüsch hervor und warf sich auf ihn. Daß zwei andere Gestalten neben Maurice hochwuchsen, nahm der Wächter des Dorfes schon gar nicht mehr wahr. Etwas schien vor seinem Kopf zu explodieren, und er sank hin und spürte den Aufprall auf dem Boden schon nicht mehr. Ihm schwanden die Sinne, und das war gut für ihn, denn er brauchte am weiteren Geschehen nicht mehr teilzunehmen und rettete dadurch sein Leben.
Matt Davies und Smoky hatten Maurice in die Zange genommen. Maurice, der schnauzbärtige Pirat, stieß einen Laut ohnmächtiger Wut aus, aber Matt grinste ihn sofort so freundlich wie ein hungriger Hai an und sagte: „Nur eine falsche Bewegung, und du lernst meinen geschliffenen Eisenhaken kennen, mein Junge. Willst du das wirklich?“
Maurice verstand kein Wort, aber er wußte, daß es eine Warnung war. Er fügte sich in sein Schicksal.
Dan O’Flynn hatte weiter hinten auf dem Pfad nach achtern gesichert, und er blieb auch jetzt als Wachtposten im Dickicht zurück, als Hasard und Siri-Tong zur Palisade liefen und das Tor öffneten und Smoky und Matt den Gefangenen auf das Dorf zudirigierten.
Brassens, der dicke Freibeuter, lag zu Dans Füßen. Sie hatten ihn gefesselt und geknebelt.
Hasard hatte den Verriegelungsbalken des großen Tores angehoben, wuchtete ihn jetzt ganz hoch, zog ihn zu sich heran und ließ ihn zu Boden gleiten. Er drückte die Torflügel auf, trat über den Balken hinweg und ging in das Dorf.
Zunächst blickten sie ihn noch voll Entsetzen an, weil sie nicht begriffen, was geschah – Männer, Frauen, Kinder und Greise. Einige von ihnen erkannte er wieder. Er lächelte ihnen aufmunternd zu und beschrieb ein paar Gebärden, die ihnen zeigen sollten, daß sie jetzt frei waren.
Schließlich sagte er auf spanisch: „Ihr seid jetzt frei. Wir sind hier, um euch zu helfen.“
Da hellten sich ihre Mienen auf. Sie wußten jetzt, wer er war, riefen immer wieder „Pele, Pele“ und meinten wohl wie Alewa, daß die Göttin der feuerspeienden Krater ein Wunder vollbracht hatte. Hasard war ziemlich sicher, daß sie das Grollen der Kanonen für die Stimme der Inselvulkane hielten, zumindest in diesem Moment.
Dann fiel draußen ein Pistolenschuß, und Hasard fuhr herum und sah Siri-Tong, die ebenfalls herumgewirbelt war und aus dem Tor hinaus zum Dickicht lief. Hasard eilte ihr nach und hatte die Reiterpistole in der Faust. Er sah Dan O’Flynn aus dem Gebüsch springen und sich zu Boden werfen. Er sah Smoky und Matt Davies, die ihre von der „Isabella“ mitgebrachten Tromblons in Anschlag gebracht hatten und über Dans Gestalt hinwegfeuerten. Er duckte sich, zielte mit der Pistole und drückte zweimal auf die Gestalten ab, die aus dem Gestrüpp drangen und das Feuer auf sie eröffneten.
Auch die Rote Korsarin schoß – zuerst mit ihrer Muskete, dann mit der Pistole, die sie aus dem Gurt riß.
Fünf Piraten fielen, die drei anderen waren über die Lichtung vor dem Dorf hinweg und rannten in panischer Flucht zur Ankerbucht der „Saint Croix“ davon.
„Das müssen die Kerle gewesen sein, die hinter Waialae, Koa, Lanoko und den anderen Mädchen und Männern aus dem Pfahlhüttendorf her waren!“ rief Dan O’Flynn, der sich gerade wieder erhob und den Schmutz von der Kleidung wischte. „Sie haben natürlich den Kanonendonner gehört und sind aus den Bergen zurückgekehrt, um nachzusehen, was los ist.“
Hasard steckte seine Pistole weg. „Seid ihr unverletzt?“ fragte er.
Sie bestätigten es ihm durch Gesten, und er konnte sich zu den Insulanern umdrehen, die jetzt zunächst zögernd, dann aber zügiger aus der Palisade hervortraten und ein aufgeregtes Gemurmel anstimmten.
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