Er wies zu den Zwillingsgipfeln von Hawaii und rief ihnen auf spanisch zu: „Geht hin und sucht eure Freunde – die Bewohner des zerstörten Fischerdorfes. Sagt ihnen, daß alles vorbei sei und sie sich nicht mehr zu verstecken brauchen. Versteht ihr mich?“
„Jedes Wort, Lobo del Mar“, antwortete ihm ein weißhaariger alter Mann mit freundlichem Lächeln.
Hasard fand, daß es eine großartige Tat von Thomas Federmann gewesen war, diesen Eingeborenen die spanische Sprache beizubringen.
Brennend segelte die „Saint Croix“ aus der Bucht auf die offene See. Ihre Geschütze schwiegen jetzt und würden nie mehr sprechen. Die letzten Überlebenden des kurzen, vehementen Gefechts retteten sich durch kühne Sprünge ins Wasser und schwammen zu den Beibooten. In dem einen saß der erschütterte Louis mit seinen Mitstreitern vom Dorf. Das andere war gerade noch rechtzeitig von Bord der Piraten-Galeone aus abgefiert worden, ehe es auch in Flammen hatte aufgehen können.
Die „Saint Croix“ glitt durch die Passage. Ihre Fahrt verlangsamte sich, es war kein Stück Zeug mehr vorhanden, das sie voranbringen konnte. Es war ein gespenstisches Bild, wie sie allmählich mehr Wasser in ihren Rumpf aufnahm und tiefer sank.
Louis blickte zur „Isabella“.
Die war zwar lädiert, brannte aber nicht. Auch ihre Kanonen waren verstummt. Sie hob und senkte sich auf den blaugrünen Wogen, und von ihren Decks drangen die Stimmen der Engländer herüber.
„Sie werden uns alle töten“, sagte einer der Freibeuter vor Louis.
„Nein“, murmelte Louis. „Wenn sie das gewollt hätten, hätten sie es längst getan. Sie verschonen uns, gewähren uns Überlebenden freies Geleit.“
„Louis“, sagte ein anderer Kerl. „Dort, am Ufer! Drei von unseren Leuten!“
Louis blickte zum Ufer der Bucht.
Die drei, die den Kampf vor der Palisade überlebt hatten, rannten soeben in die Brandung, als hätten sie sämtliche Teufel der Hölle im Nacken sitzen. Sie begannen zu schwimmen und hielten auf die Beiboote der „Saint Croix“ zu.
„Wir nehmen sie über“, murmelte Louis.
Er nahm seinen Blick nicht vom Ufer. Weitere Gestalten erschienen jetzt. Da war der schwarzhaarige Teufel, dessen Namen er immer noch nicht wußte, dann eine Frau, ein Mann mit einer Eisenhakenprothese und noch zwei Kerle. Engländer. Bastarde, dachte Louis, der Leibhaftige soll euch holen. Wer seid ihr bloß?
Plötzlich waren auch Maurice, der Ausguck, und Brassens, der Dicke, da. Louis erkannte die beiden Posten, die er vor dem Tor der Palisade zurückgelassen hatte. Sie machten einen benommenen Eindruck und schienen soeben aus tiefer Ohnmacht erwacht zu sein.
Sie alle durften in das Wasser der Bucht steigen und zu ihren Booten schwimmen – und von Bord der „Isabella“ plumpsten jetzt auch zwei andere Gestalten ins Wasser, die sich bei näherem Hinsehen als Richard und Luc, der Bärtige, entpuppten.
Ein narbiger Riese mit wuchtigem Kinn blickte ihnen von der Back aus nach, schüttelte die Faust und brüllte: „Ihr habt Schwein gehabt, ihr Satansbraten! Laßt euch bloß nie wieder blicken, ihr krummbuckeligen Zander, oder es geht euch wirklich schlecht! Ich hätte mich ja gern noch näher mit euch unterhalten, aber man ist ja ein Mensch und keine Bestie wie ihr Kanaillen!“
Louis sah wieder zu dem schwarzhaarigen Kapitän der fremden Galeone. Gewiß, er konnte jetzt zu ihm schwimmen und ihn vor die Klinge fordern. Aber plötzlich fehlte ihm der innere Ansporn dazu. Sein Haß schien verflogen zu sein. Der Selbsterhaltungstrieb überwog.
„Fort“, sagte er mit rauher Stimme zu seinen Männern. „Nichts wie weg von hier, ehe die es sich anders überlegen.“
Sie nahmen ihre Kumpane in die Boote auf, pullten aus der Bucht hinaus und an der sinkenden „Saint Croix“ vorbei. Draußen, auf See, setzten sie ihren Jollen Masten auf und segelten bald darauf in westlicher Richtung davon.
Von Bord der „Isabella“ löste sich wieder eine Gestalt – Alewa. Sie tauchte mit einem Kopfsprung ins Wasser, verschwand in dem klaren Wasser der Bucht, schoß wenig später aber wieder an die Oberfläche und schwamm mit langen, weit ausholenden Zügen zu den am Ufer Wartenden. Sie ging an Land und fiel vor Hasard, Siri-Tong und den anderen auf die Knie.
Der Seewolf legte ihr die Hand auf die Schulter. „Steh auf“, sagte er. „Für solche Gesten sind wir nicht zu haben.“
Sie erhob sich wirklich und sah ihm in die Augen. „Wie kann ich dir danken, Lobo del Mar?“
„Hast du über die Insel nachgedacht, zu der Masot mit seinen Geiseln unterwegs ist?“
„Ja.“
„Dann wirst du mir aufzeichnen, wie sie auf Thomas Federmanns Karte ausgesehen hat. Traust du dir das zu?“
„Ich glaube, ja.“
Rufe erklangen aus dem Dickicht. Alewa wandte den Kopf etwas nach rechts, blickte zwischen Hasard und Siri-Tong hindurch, lachte plötzlich und rief: „Das sind Waialae und Koa! Und Lanoko und die anderen! Sie kommen! O Pele, Göttin von Hawaii, sie kommen wirklich!“
Braunhäutige Gestalten traten aus dem Ufergestrüpp auf den Strand, so viele, daß der Streifen weißen Sandes bald nicht mehr für sie auszureichen schien. Alewa stürzte auf einen hochgewachsenen, sehr jungen Mann mit edlen Zügen zu. Er war ein Mann, der auch für europäische Begriffe unbedingt als schön zu bezeichnen war. Alewa umarmte und küßte ihn.
„Nun wissen wir, wer Koa ist“, sagte Dan O’Flynn mit einem schiefen Grinsen. „Oh, und da sind ja auch Waialae und – ja, der Junge, der ihre Hand hält, muß Lanoko sein.“
„Die Leute aus dem Dorf haben sie schnell gefunden“, sagte Siri-Tong. „Gott sei Dank.“
Der Seewolf blickte zur „Isabella“, winkte Ben Brighton, Ferris Tucker, Carberry und den anderen zu. „Alles in Ordnung dort drüben?“ schrie er.
„Aye, Sir!“ rief Ben zurück. „Batuti und Stenmark haben ein paar Kratzer abgekriegt, aber die sind nicht weiter der Rede wert.“
„Und Shane?“
„Kann schon wieder kräftig fluchen!“
„Eine Sonderration Rum für alle!“ rief der Seewolf. „Kutscher, rück den edelsten Tropfen heraus, den du in deinem Schapp versteckt hast, verstanden?“
„Ja, Sir!“ rief der Kutscher.
Und die Crew stimmte den alten Kampf- und Siegesruf der Seewölfe an: „Arwenack, Ar-we-nack!“
Hasard ließ seinen Blick weiter nach rechts wandern und sah, wie die „Saint Croix“ brennend in der See versank. Zischend erloschen die letzten Flammen. Das Heck war das letzte, was noch aus den Fluten aufragte, aber rasch schluckte das Meer auch diesen Teil des Schiffes. Die Beiboote segelten – jedes mit Großsegel und Fock versehen – nach Westen davon und verschwanden bald ganz hinter der Kimm.
„Die See um Hawaii wird wieder zum Meer der Ruhe“, sagte der Seewolf. „Und wir kämpfen weiterhin mit allen Mitteln dafür, daß dieses Paradies erhalten bleibt und nicht von Narren, Schnapphähnen und Glücksrittern zerstört wird.“
Die Furcht hielt sie gepackt, und diese Furcht war wie eine unbarmherzige Faust, die ihren Griff niemals lockern würde. Sie spürte, daß sie dem Grauen nicht entrinnen konnte. Nicht heute und nicht bis ans Ende ihrer Tage. Es war in ihr und hatte von ihr Besitz ergriffen.
Weiße Wolkenberge trieben in majestätischer Formation vor dem leuchtenden Blau des Himmels. Es hieß, daß die Götter freundlich gesinnt seien, wenn sie in solchen Wolken ruhten, und daß sie wohlwollend herabschauten, sobald sich jene Wolken strahlend weiß zeigten.
Es beflügelte Moana zu einer Hoffnung, die ihrer Angst ebenbürtig wurde.
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