Nein, dachte er. Nicht so kurz vor dem Ziel! Ich muß es schaffen! Jetzt darf ich nicht aufgeben!
Er spürte, wie das Blut aus der Schulterwunde wieder zu rinnen begann, und er wußte, daß immer mehr Leben aus ihm wich. Mit zusammengepreßten Zähnen schaffte er es, sich wieder auf die Beine zu stellen. Es dauerte eine Weile, bis er wieder gehen konnte. Vorsichtig setzte er Fuß vor Fuß. Er wußte, daß ihn Eile nur dem Tod näherbringen würde.
Dann hatten ihn die Soldaten entdeckt. Uniformierte Männer mit Waffen in den Händen eilten ihm entgegen, und als sie sahen, wie schwer er verwundet war, trugen sie ihn bis vor die Mühle, wo ein Offizier stand und ihn anblickte, als sei er der Hölle entsprungen.
„Die Waffen …“ stieß er heiser hervor. „Le Testu – er hat die Wagen …“
Der Offizier war mit zwei Schritten bei ihm.
„Wo?“ fragte er knapp.
„Fast zwei Stunden von hier …“ Die Stimme des Spaniers verwehte. Sein Kopf sackte zusammen, und die beiden Soldaten, die bemerkten, daß sie einen Toten in den Armen hielten, ließen ihn sanft zu Boden gleiten.
„Auf die Pferde!“ erklang die schneidende Stimme des Offiziers. Er wandte sich an den beleibten Mann, der in der Tür der Mühle stand. „Sie kümmern sich um den Toten, Mann!“
Dann schwang er sich in den Sattel des Schweißfuchses, den einer der Soldaten herangebracht hatte, stieß den rechten Arm mit dem Säbel in die Luft und preschte los.
Mit lautem Klirren und dem Schlagen von Hufen folgten ihm die zwei Dutzend Soldaten, die den Wagenzug von der Mühle von Frigus aus bis nach Rennes hatten eskortieren sollen.
Gustave Le Testu rieb sich die Hände, als er die drei Wagen inspiziert hatte. Das war der größte Transport, den er bisher hatte abfangen können. Er wußte, daß die Musketen und Pistolen, die Hieb- und Stichwaffen und das Pulver englischen Ursprungs waren. Noch hatte er nicht herausgefunden, wieso Engländern daran gelegen sein könnte, den undurchsichtigen Heinrich von Bourbon zu unterstützen, der mit spanischen Spitzeln und Spionen gemeinsame Sache machte.
Heinrich von Bourbon war Hugenotte, aber Le Testu nahm dem verschlagenen Mann nicht ab, daß er für diese Überzeugung auch kämpfen würde. Sein Ziel war es, den Thron Frankreichs zu besteigen, und dafür würde er wahrscheinlich auch seinem protestantischen Glauben abschwören.
Le Testu blickte seinem Freund Montbars entgegen, der mit zwei anderen Männern im Wald verschwunden war, nachdem sie Schüsse gehört hatten und die drei Männer, die dem Spanier gefolgt waren, sich nicht hatten blicken lassen.
„Was ist, Montbars?“ fragte er den hochgewachsenen Korsen, dessen jettschwarze Augen im Schein der Flammen von innen heraus zu leuchten schienen.
Der Korse nahm den dunklen Hut ab und fuhr sich durchs graue Haar. Sein markantes Gesicht mit dem energischen Kinn drückte Ärger aus.
„Die Idioten haben sich von dem Kerl überrumpeln lassen“, sagte er mit Verachtung in der Stimme. „Sie sind alle drei tot, und von dem Kerl war nirgends etwas zu sehen.“
Gustave Le Testu zuckte mit den Schultern.
„Er wird sich im Wald versteckt haben“, sagte er. „Er allein kann uns nicht gefährlich werden. Laß vorsichtshalber eine Nachhut zurück, falls er wagen sollte, uns zu folgen.“
Montbars nickte. Er teilte vier Männer ein und schärfte ihnen ein, vorsichtig zu sein. Dann ging er zu den Wagen hinüber, die abfahrbereit waren. Man hatte sie auf dem schmalen Weg bereits gewendet.
Von Saint Brieuc würden sie ihre Beute nach Dinard bringen, dort in Boote umladen und über die Bucht in ihr Versteck verfrachten, in dem sie schon eine ganze Menge Waffen gehortet hatten.
Le Testu gab das Zeichen, und die Wagen setzten sich in Bewegung. Die meisten Straßenräuber gingen zu Fuß neben den Wagen her, nur wenige hatten wie Le Testu und Montbars Pferde.
Als sie die Hauptstraße von Brest nach Rennes überquert hatten, lenkten die Fahrer die Wagen auf unwirtliche Wege, die hinauf zur Küste führten. Dorthin wagten sich nur selten die Soldaten Heinrich von Bourbons.
Die Nacht wich langsam einer milchigen Morgendämmerung, und Müdigkeit hatte fast alle Wegelagerer übermannt. Selbst die Fahrer kämpften dagegen an.
„Noch eine Stunde, Männer!“ rief Le Testu. „Dann legen wir eine Pause ein, und ihr könnt den Tag über schlafen!“
Er hatte noch nicht ausgesprochen, als er das dumpfe Dröhnen vernahm, das den Boden unter den Hufen seines Pferdes zu erschüttern schien. Er drehte sich fragend zu Montbars um.
„Reiter!“ preßte der Korse zwischen den Lippen hervor. „Verdammt, das können nur Soldaten sein!“
Sie befanden sich mit den drei Wagen gerade auf einer freien Strecke zwischen zwei Waldstücken. Nirgends gab es eine Möglichkeit, sich zu verbergen oder Deckung zu suchen.
Gustave Le Testu trieb sein Pferd an, um es vor den ersten Wagen zu bringen. Dann weiteten sich seihe dunklen Augen.
Fast zwei Dutzend Soldaten tauchten mit Geschrei auf galoppierenden Pferden vor ihnen auf, Pistolen und Säbel in den erhobenen Fäusten. Sie schälten sich aus der milchigen Dämmerung wie Geister, die der Erde entsprungen waren.
„Fahrt die Wagen zu einem Kreis!“ brüllte Le Testu. „Holt euch Waffen von den Wagen, und dann schießt sie über den Haufen!“
Er wollte sein Pferd herumreißen, doch in diesem Moment fiel der erste Schuß. Das Tier bäumte sich unter ihm auf, wieherte gequält und brach in der Hinterhand zusammen.
Le Testu war mit einem Satz aus dem Sattel. Nur mit Mühe entging er den schlegelnden Hufen seines Pferdes, das auf die Seite gefallen war und im Todeskampf noch um sich schlug.
Geduckt rannte Le Testu zu den Wagen hinüber. Seine Männer hatten schnell reagiert, doch die Sechsergespanne waren von dem nun hereinbrechenden Bleigewitter verrückt geworden und zerrten einen der Wagen wieder aus dem Ring, ohne daß die Straßenräuber etwas dagegen unternehmen konnten.
Le Testu sah, wie seine Leute die Planen von den Wagen fetzten und sich Musketen und Pistolen holten. Er verfluchte seine Nachlässigkeit, nicht mit einem Kampf gerechnet zu haben. Er wußte, daß dieser Fehler wahrscheinlich tödlich war, und während seine Männer bereit waren, bis zum letzten Atemzug zu kämpfen, sah er sich nach einer Fluchtmöglichkeit um.
Im Augenblick war es unmöglich, denn die Soldaten waren ausgeschwärmt und umzingelten die drei Wagen. Der dritte hatte sich in den ersten verkeilt, und die in Panik geratenen Percherons, von denen einer schon von einer Kugel niedergestreckt worden war, brachten die Männer hinter den Wagen in Gefahr.
Erst jetzt wurden die Schüsse der Soldaten erwidert. Eine Wolke von Pulverdampf erhob sich bei den Wagen und vermischte sich mit der milchigen Dämmerung.
Le Testu konnte nur noch Schemen erkennen, die an den Wagen vorbeijagten. Er schoß einen der Soldaten aus dem Sattel, aber der Mann erhob sich wieder und humpelte davon.
Plötzlich war Montbars, der Korse, neben ihm.
„Wir sind verloren!“ brüllte der Mann mit den jettschwarzen Augen. „Wir müssen versuchen, durch ihre Reihen durchzubrechen!“
Le Testu griff nach der Hand des Korsen, die dieser ihm entgegenstreckte, und saß mit einem Ruck hinter ihm auf dem Rücken des Apfelschimmels.
Der Pulverdampf hüllte das Kampfgetümmel immer mehr ein. Die Männer bei den Wagen schossen wie verrückt und schafften es, die Soldaten von den Wagen fernzuhalten.
Einzig Le Testu und Montbars schienen die wirkliche Gefahr erkannt zu haben. Le Testu duckte sich tief hinter dem Korsen, als dieser seinem Pferd die Hacken in die Seiten stieß und den Grauschimmel mit wilden Schreien antrieb.
Einem Soldaten, der plötzlich an ihrer Seite auftauchte, warf Le Testu die leergeschossene Pistole an den Kopf. Er sah, wie der Uniformierte aus dem Sattel fiel, dann waren zwei andere vor ihnen, und Montbars mußte den Grauschimmel herumreißen.
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