Im 18. Jahrhundert hält die positive Einschätzung der Henne weiterhin an. Doch dem dummen Huhn begegnen wir auch bereits im Mittelalter. Im «Reinfried von Braunschweig», einem nur teilweise erhaltenen Versroman vom Ende des 13. Jahrhunderts, belehrt uns der Erzähler, wer es zulasse, dass er sich verliebe, obwohl er keine Aussicht auf Erfolg hat, der handle wie ein «tumbez huon daz brüetet / ein tôtez ei». Schondoch, ein Dichter des ausgehenden 14. Jahrhunderts, bezichtigt in einem seiner Gedichte jemanden, er sei tumber dan ein huon . Man konnte auch handeln wie ein toubez huon «stumpfsinniges, einfältiges Huhn»; der in Basel wirkende Dichter Konrad von Würzburg (um 1220–1287) braucht den Ausdruck wiederholt. In einigen mittelalterlichen Texten steht das Huhn für etwas Geringes oder gar Wertloses. Man gibt etwas umb ein huon «um nichts», für die Heiden sei ein Christ als ein huon , also wertlos. Jemandem konnte man drohen, ihn zu (zer)brechen als ein huon .
Zu einem sehr häufig gebrauchten, abschätzigen Ausdruck wurde dummes Huhn nicht im Zeitalter der Aufklärung, sondern im Zeitalter der bürgerlichen Überheblichkeit, im 19. Jahrhundert, weil das Bild der fürsorglichen oder gar mutigen Henne allmählich verblasste und weil viele, auch in der Gelehrtenwelt, das Huhn tatsächlich für dumm hielten, was man damals bereits in der Schule lernte:
«Das Huhn ist auch ein Thier. Es wohnt im Stall, ist scheu und dumm», doziert Friedrich Krumbachers «Lesebuch für das erste Schuljahr», das 1855 bereits in der zehnten Auflage vorliegt. In seinem «Bilderschmuck der deutschen Sprache» von 1886 will uns Herman Schrader weismachen, das redensartliche dumme Huhn sei tatsächlich dumm:
«Das Wort Huhn , in verächtlichem Sinne, dient als Schimpfwort, z. B. du bist ein dummes Huhn (in der That sind die Hühner sehr einfältig).»
Eine Frau oder ein Mädchen können wir, einer langen Tradition folgend, abschätzig als Huhn bezeichnen und sagen: Du Huhn, kannst du dich denn nicht konzentrieren? Eher nur herablassend ist das wohl aus dem afroamerikanischen Slang stammende Chick «junge Frau», das seit 1927 im amerikanischen Englisch belegt ist: He is going out with a real cool chick . Es ist heute im Deutschen als Lehnwort so bekannt, dass Alexandra Reinwarth und Susanne Glanzner im Buch «Der Chick-Code. Das Gesetzbuch für Chicks und den Umgang mit Bros» von 2011 Lebensregeln für Chicks formuliert haben. Auch im Französischen ist poule meist abwertend und bezeichnet eine leicht zu erobernde Frau oder eine Mätresse. Raimond Queneau erzählt in «Pierrot mon ami» von 1942 von einer «belle poule», Blaise Cendrars in «Bourlinguer» von 1948 von einer «poule de luxe».
Seit den 1990er-Jahren hat sich im Mittelbernischen henne zu einem Verstärkungswort mit der Bedeutung «sehr», verstärkt uhenne «ausserordentlich», entwickelt. Etwas kann hennegeil, henneschöön, hennegäbig oder uhenneguet, uhennekuul sein. In der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 14. Februar 2014 schreibt Urs Bühler in der Glosse «Eins zu null für das Hähnchen»: «Das Resultat schmeckte so, wie es zwar kein Berliner, aber jeder Berner formulieren würde: ‹henne guet›.» Und Reto Stifel ist in seiner Berndeutsch geschriebenen Mundartkolumne in der «Engadiner Post» vom 21. Februar 2015 begeistert vom Wort umepäägge : «Aber das Wort umepäägge gfaut mir haut henne guet», schwärmt er. Woher henne als Verstärkungswort kommt, weiss ich nicht. Ich wage folgende Vermutung: Denjenigen, die das Wort in Umlauf gebracht haben, hat wohl das etwas grobe sou- in Wörtern wie souschöön, souguet nicht behagt, vielleicht weil sie da oder dort gemahnt wurden, das gehöre sich nicht. Also ersetzten sie sprachspielerisch sou durch henne und sagten fortan henneschöön, henneguet . Und siehe da, ihre spielerische Alternative setzte sich durch.
Besonders hartnäckig ist am Huhn das Eigenschaftswort dumm haften geblieben. Auch wenn wir heute mehr über Tiere wissen, die Frauen emanzipiert sind und den Männern deshalb der Ausruf du dummes Huhn und Bemerkungen wie die benehmen sich wie dumme Hühner weniger leicht über die Lippen gehen mögen als auch schon, sind sie unserer Alltagssprache nicht fremd. Beklopptes Huhn, blödes Huhn, doofes Huhn, einfältiges Huhn, eingebildetes Huhn, geiles Huhn bzw. geile Henne, irres Huhn, krankes Huhn, schräges Huhn, verklemmtes Huhn, aussehen wie ein gerupftes Huhn, aufgescheuchte Hühner, gackernde Hühner und verrückte Hühner sind, auf Frauen gemünzt, gang und gäbe. Sogar Frauen, die sich über sich selbst ärgern, soll manchmal der Ausdruck ich dummes Huhn entwischen. Weil wir das Huhn für dumm halten, sagen wir da lachen ja die Hühner , wenn wir meinen «das ist einfach unsinnig, lächerlich». In Sten Reens Roman «Kornblum» von 2010 heisst es von einer Frau in expliziter Sprache, «dass sie ein saudummes, hohles Huhn war, ein gefallsüchtiges Arschloch».
Dem faulen Huhn begegnen wir nicht erst in Janoschs Geschichte «Hans Hansens Trine ist ein faules Huhn», sondern bereits 1675 beim Barockdichter Michael Kongehl: «pakke dich / du faules Huhn». Das fidele Huhn kann sowohl einen Mann als auch eine Frau bezeichnen; «der Jörgele war ein fideles Huhn», schreibt Ludwig Ganghofer in «Lebenslauf eines Optimisten» von 1909–1911. In einigen Mundarten der deutschsprachigen Schweiz bezeichnet e gschupfts Huen eine «närrische Person». Der Dichter Joachim Ringelnatz schrieb Fanny von Deeters in einem Brief vom 6. April 1926: «Du bist ein geschupftes Huhn.»
Sogar den Ausdruck wilde Hühner , mit dem man eigentlich nicht domestizierte Hühnervögel wie den Fasan und das Auerhuhn bezeichnet, übertrugen wir auf Frauen, vor allem seit 1973, als die deutsche Kinder- und Jugendbuchautorin Cornelia Funke ihre sehr erfolgreiche siebenteilige Buchserie «Die wilden Hühner» begann, von denen «Die wilden Hühner» (2006), «Die wilden Hühner und die Liebe» (2007) und «Die wilden Hühner und das Leben» (2009) verfilmt wurden. Ab 2010 zog der Kinderbuchautor Thomas Schmid mit der Kinderbuchserie «Die wilden Küken» nach, die bis heute über ein Dutzend Bücher zählt.
Dem Vorurteil, das Huhn sei dumm, widersprach der Verhaltensforscher Erich Baeumer. Er forschte fünfzig Jahre lang über die Haushühner und veröffentlichte seine Erkenntnisse 1964 in einem Buch mit dem ironisch gemeinten Titel «Das dumme Huhn – Verhalten des Haushuhns». Viele Zeitungen nahmen in den vergangenen Jahren das Thema auf, z. B. die «Aargauer Zeitung» mit «Von wegen dummes Huhn! – Hühner können zählen und führen sich für Sex hinters Licht» 2016; der «Kurier» mit «Von wegen dummes Huhn», der «Standard» mit «Wie dumm Hühner wirklich sind» und die «Welt» mit «Huhn: Von wegen dumm, das Geflügel ist ziemlich schlau» 2017; der «Blick» mit «Der Ausdruck ‹dummes Huhn› stimmt so nicht» 2018. Die Zeitungsartikel häuften sich in dieser Zeit, weil 2013 das Buch «Das Huhn», herausgegeben von Joseph Barber, erschienen war und weil 2017 die Hirn- und Verhaltensforscherin Lori Marino den viel beachteten wissenschaftlichen Artikel «Thinking Chickens: a review of cognition, emotion, and behavior in the domestic chicken» veröffentlicht hatte. Auffallen muss, dass sowohl Baeumer als auch die meisten Zeitungsartikel sich auf den Ausdruck dummes Huhn bezogen; was deutlich macht, wie oft wir ihn brauchen.
Doch die Mär vom dummen Huhn wird bis heute weiterverbreitet. Der Trickfilm «Fine Feathered Friend» von 1942 aus der Tom-und-Jerry-Serie von Hanna und Barbera hiess in der deutschen Übersetzung «Tom und das dumme Huhn». Schobert & Black veröffentlichten 1973 mit Ulrich Roski das Lied «Dummes Huhn, was nun». Der Inder Idries Shah (1924–1996), der in England lebte, erzählte die Sufigeschichte «The Silly Chicken – das dumme Huhn», die von Jeff Jackson illustriert 2015 als sehr erfolgreiches Kinderbuch erschien. Darin versetzt ein Huhn eine ganze Stadt mit seinen erfundenen Geschichten in Aufruhr. Die Leute glauben ihm, ohne nach seiner Glaubwürdigkeit zu fragen.
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