Er tat, wie befohlen, woraufhin ihm Severine wie beim Spinnen ein grünes Band um die halb ausgebreiteten Arme legte. Anschließend legte sie sich in gleicher Weise ein grünes Band um.
»Jetzt mache mir alles nach«, befahl sie und spreizte ihre Gliedmaßen ein Stück.
»Tu ich nicht immer, was du willst?«, grummelte Anthony und weitete seine Arme ganz ohne Schwierigkeiten.
Vorerst ging sie nicht auf seine Spitze ein. Sie konstatierte lediglich:
»Das klappt also. Dann erhöhen wir gleich den Druck.«
Jetzt hielt sie ihre Hände so weit auseinander, dass ihr das Band gerade nicht auf die Ellbogen rutschte. Er tat es ihr mühelos gleich, war geistig indes abwesend.
»Würdest du mir vielleicht eine Frage beantworten?«, fing er vorsichtig an.
»Das kommt darauf an, welche.«
»Weißt du nicht, dass ich trotz der Rückschläge in den letzten Jahren ein bekannter Regisseur bin? Hast du eine Ahnung davon, was es heißt, die Hauptrolle in einem meiner Filme spielen zu dürfen? Hast du eine Vorstellung davon, wie reich du werden kannst?«
Auf Severines Lippen stahl sich ein dünnes Lächeln.
»Das sind gleich mehrere Fragen. Zunächst einmal habe ich dir schon versichert, darüber im Bilde zu sein, wer du bist. Ferner dachte ich, alles zum Thema Filmrolle geäußert zu haben.«
»Hast du nicht«, widersprach Anthony heftig, »du sagst immer nur nein, ohne mich auch nur anzuhören. Gib mir doch wenigstens die Chance, dir meinen Vorschlag zu unterbreiten.«
Sie schien kurz zu überlegen. »Also gut, aber zuerst wechseln wir die Bänder.«
Severine ersetzte ihr grünes Band durch ein gelbes, ehe sie die Arme weit spreizte. Er machte es ihr problemlos nach. Vielleicht war er ja doch nicht so ein Schwächling. Diese Hoffnung verlieh ihm Mut.
»Ich biete dir ein Viertel der Gesamteinnahmen, wenn du mitspielst.«
Severine grinste müde.
»Die Hälfte!«, korrigierte er sich.
Sie seufzte: »Es geht mir nicht um Geld. Ich habe genug davon.«
»Dann denk an den Ruhm. Ich bin überzeugt, dass dir die Rolle der Kleopatra ausgezeichnet stehen wird!«
Betrübt ließ sie die Arme sinken. Sie streifte das gelbe Band ab. Ihr Blick wanderte zum Fenster; er verlor sich in der Ferne.
»Ich finde es wirklich süß, wie du dich um mich bemühst, Anthony, aber ich kann nicht. Ich führe mein Leben in aller Stille und will – darf daran nichts ändern.«
Er spürte, wie etwas in ihm zu toben begann. Es war keine Wut, sondern die schiere Verzweiflung.
»Los, wir machen weiter!«, hauchte sie, wandte sich wieder ihrem Gegenüber zu und legte sich ein rotes Band um die Arme, was Anthony sogleich nachahmte.
»Gut auseinanderziehen!«, befahl sie.
Auch diesmal meisterte er die Aufgabe ohne Anstrengung.
»Schön, schön!«, murmelte Severine. Dann beschäftigte sie sich offenbar mit einem Gedanken, der sie wieder etwas lebhafter werden ließ:
»Am Rande habe ich mitbekommen, wie dein Angestellter meinen Chef Partenes über dich ausgefragt hat. Normalerweise dürfen wir außer an Verwandte keine Informationen über Patienten preisgeben. Doch der Typ war ziemlich hartnäckig. Er hat Partenes so lange genervt, bis er ihm anvertraute, was er wissen wollte.«
Anthonys Miene verfinsterte sich. »Alex eröffnete mir, dass ich längst draußen sein könnte, wenn du mich nicht hier festhalten würdest.«
»Du bist ein freier Mann. Du brauchst nur aus diesem Zimmer zu gehen …«
»… wenn du mich nicht gerade festbindest …«
»… was ich nicht mehr tun werde. Mache dir und mir nichts vor. Du bist noch hier, weil du hier sein willst .«
»Ja!«, brach es aus Anthony heraus. »Ich will, dass du endlich zustimmst. Vorher gehe ich nicht weg! Sollte ich vor deiner Einwilligung vom Sicherheitsdienst rausgeschmissen werden, werde ich dein Haus belagern. Schließlich weiß ich, wo du wohnst.«
»Willst du mir etwa drohen?«
»Nein. Ich will, dass du ja sagst!«
Severine legte sich ein zweites rotes Band um die Arme und zog es weit auseinander. Diesmal kam Anthony nicht ganz ohne Mühe mit. Aber er schaffte es trotzdem.
»Wir haben deine Grenze bald erreicht«, prophezeite sie.
»Noch lange nicht!«, konterte er wild entschlossen. »Sag ja. Bitte! Es ist ganz einfach: ›Ja‹.«
»Ich kann nicht!«
»Wieso nicht?«
Anstatt zu antworten, legte sich Severine ein drittes rotes Band an. Sie dehnte es gnadenlos in die Länge. Jetzt konnte Anthony nicht mehr mithalten. Mit drei roten Bändern vermochte er seine Arme nur so weit zu öffnen, wie jene locker um sie herumlagen.
»Laut Partenes kann mein Training die Muskelschwäche kaum beeinflussen. Du willst also auch, dass ich noch hierbleibe – warum, wenn du nicht ja sagen willst? Was hast du von meiner Anwesenheit?«, beharrte Anthony.
Plötzlich wurden Severines Augen feucht. Er war völlig entsetzt. Er hatte diese seltsame Frau nun schon einmal weinend und einmal verlegen gesehen. Beides passte überhaupt nicht zu ihrer selbstbewussten Erscheinung. Während sie die Arme sinken ließ, bahnten sich bereits ihre nächsten Tränen an. Aber was hatte sie ausgelöst? Auf keinen Fall wollte Anthony, dass sie wieder weinte. Hastig durchforstete er sein Hirn nach einer Idee, wie er ihre Tränen aufhalten konnte. Dann tat er das, was ihm gerade noch rechtzeitig einfiel. Er rutschte von der Bettkante und kniete sich vor Severine nieder.
»Bitte«, flehte er, »bitte, du würdest mich überglücklich machen – und dich ebenso! Was auch immer dich zurückhält, es ist Unsinn. Du brauchst keine Furcht vor der Leinwand zu haben. Ich werde dich gegen sämtliche Kritiker und Neider beschützen. Vor allem von letzteren wirst du reichlich haben. Du wirst selbst Elizabeth Taylor in den Schatten stellen. Da bin ich absolut sicher. Nur, bitte, gib deinen Widerstand auf! Sei meine Kleopatra!«
Sie zeigte sich derart überrascht und gerührt von Anthonys unverhofftem Kniefall, dass ihre Tränen tatsächlich nicht über den Saum ihrer Augen herauskamen. Ihre langen Finger fuhren durch sein Haar.
»Ich habe keine Angst. Doch ich will mir dein Angebot überlegen. Lass mir eine Nacht Zeit. Dann gebe ich dir Bescheid.«
»Bitte sag ja«, wiederholte er und griff nach der Hand in Severines Schoß. Kaum hatte er sie berührt, ließ er sie erschrocken los.
»Tut mir leid! Du magst es nicht, wenn man dich berührt. Tut mir wirklich …«
»Schon gut«, entgegnete sie. »Nimm ruhig meine Hand. Halte sie fest. Das gibt mir ein wenig Kraft.«
Anthony war völlig überrascht. Er gab ihr Kraft? Gegen wen oder was? Hatte sie etwa doch Angst? Besaß sie Feinde? Sie legte ihre Rechte in Anthonys Hände, mit denen er sie zunächst noch zögerlich, dann entschieden umfasste. Severine wirkte zerbrechlich. Wie konnte das sein?
»Was ist eigentlich aus deiner Berührungsphobie geworden?«, holte sie ihn aus seinen Gedanken.
Jetzt konnte er sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Es geht eigentlich weniger um Berührungen, die ich nicht möchte, als um gewisse Positionen, die vorher geklärt sein müssen.«
»Verstehe«, kicherte sie; »der Zyniker, der keine Gefühle zulässt.«
»So ist es«, pflichtete Anthony bei. »Aber woran liegt es bei dir? Alles in allem scheinst du keine Zynikerin zu sein.«
»Das bin ich in der Tat nicht. Vielleicht wirst du es eines Tages erfahren …« Plötzlich unterbrach sie sich selbst. »Es ist schon spät. Morgen früh wirst du entlassen. Gute Nacht.«
Severine zog ihre Hand weg, nahm ihm die Bänder ab und erhob sich. Er kniete weiterhin vor dem Stuhl, auf dem sie gesessen hatte.
»Überleg es dir – für mich, ja?«
»Bis Morgen früh, Anthony«, raunte sie und verschwand.
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