Im praxisnahen UNHCR-Trainingshandbuch für DolmetscherInnen im Asylverfahren werden vier ethische Anforderungen an die DolmetscherInnen formuliert: Vertraulichkeit, Unparteilichkeit, Genauigkeit und Vollständigkeit sowie ein respektvoller Umgang mit den GesprächsteilnehmerInnen (Hebenstreit & Marics 2015: 74ff.). Zugleich betonen die beiden AutorInnen, dass DolmetscherInnen im Asylverfahren immer auch mit Dilemmata konfrontiert sein können, für die es keine Patentrezepte gibt (ebda. S. 78). Es wird in solchen Fällen empfohlen, das Problem zu identifizieren, zu klären, ob ein moralisches Problem besteht, sich die eigenen Wertvorstellungen im Bezug auf das Problem bewusst zu machen, mögliche Handlungsoptionen zu beschreiben, Optionen abzuwägen und eine Entscheidung zu treffen und schließlich das Ergebnis der Handlung zu bewerten und darüber nachzudenken, was man hätte anders machen können bzw. was man in künftigen Situationen anders machen würde. In der konkreten Dolmetschsituation müssen solche Entscheidungen jedoch meist unter großem Zeitdruck sehr rasch getroffen werden. Wichtig ist jedoch, solche Situationen als Lernmöglichkeiten zu begreifen. Die hier dargestellten ethischen Anforderungen eignen sich auch für den Bereich der Psychotherapie.
Hale berichtet von einer 2005 in Australien durchgeführten Studie zum Thema Berufskodex. Von den 500 an DolmetscherInnen ausgeschickten Fragebögen wurden lediglich 21 ausgefüllt und retourniert – wohl ein Hinweis auf die Indifferenz, mit der die AkteurInnen aus der Praxis diesem Forschungsthema begegnen (2007: 102). Ein verbindlicher Berufskodex für den Bereich des Community Interpreting ist noch keine ausreichende Maßnahme, um die Qualität zu steigern:
There is large contradiction between the high standards expected of interpreters, as outlined in the code of ethics on the one hand, and the total absence of any compulsory pre-service training, low institutional support and poor working conditions to allow interpreters to meet those standards on the other. In view of this, some have questioned whether it is realistic to expect community interpreters to adhere to a code. (2007: 105)
Die hier aufgeworfene Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen dessen, was man von LaiendolmetscherInnen tatsächlich in der konkreten Arbeit erwarten kann, stellt sich im Alltag in den einschlägigen Einrichtungen beispielsweise auch auf der Ebene der Supervisionstreffen: Inwiefern ist es möglich, ausgebildete DolmetscherInnen und LaiendolmetscherInnen, die in einer Einrichtung unabhängig von ihrer Ausbildung zum gleichen Stundenlohn Seite an Seite arbeiten, zu motivieren, Supervisionstreffen oder Fortbildungen zu besuchen, angesichts der äußerst prekären und schwer planbaren Beschäftigungsverhältnisse? Supervisionstreffen oder sonstige Gruppentreffen bieten eine – wenn nicht die einzige – strukturierte oder halb-institutionalisierte Gelegenheit im Arbeitsalltag, um sich mit berufsethischen Anliegen auseinanderzusetzen. Beispielweise beschreibt Pinzker eine Erfahrung, die sie als ausgebildete Dolmetscherin zu Beginn ihrer Tätigkeit in der Psychotherapie gemacht hat und die sie zu berufsethischen Überlegungen veranlasst hat: Obwohl sie in ihrer Ausbildung gelernt hatte, sich von den gesprochenen Inhalten zu distanzieren und also keine Stellung zum Gesagten zu beziehen, und diese Anforderung auch in ihrer Berufsethik verinnerlicht hatte, gelang es ihr nicht, ihren Schock oder ihre Skepsis zu verbergen, sowohl im Hinblick auf die Arbeitsweise einer Psychotherapeutin, als auch im Hinblick auf die Aussagen eines Klienten. Zwar hielt sie sich auf der Wortebene jeweils an das Original, aber ihre Körpersprache und die unwillkürliche Modulation ihrer Stimme verrieten ihre emotionalen Reaktionen auf das Geschehen. Sie war also trotz ihres rationalen Wissens um die Notwendigkeit, sich distanziert und zurückhaltend zu verhalten, nicht in der Lage, ihre Emotionen ganz zu verbergen, was ihrer Meinung nach reale Auswirkungen auf den weiteren Gesprächsverlauf hatte, indem ihre eigene Haltung sich auf ihr Gegenüber übertrug. Pinzker zieht daraus die Schlussfolgerung, dass es eine vielschichtigere und flexiblere Ethik des Dolmetschens braucht, eine, die nicht auf dem Mythos der Neutralität beruht, sondern „auf dem Anerkennen des Mensch-Seins, Beteiligtseins und der daraus erwachsenden Notwendigkeit der Reflexion“ (2015: 66). Daraus leitet sie die Forderung ab, die Rolle der DolmetscherInnen in den entsprechenden Einrichtungen aufzuwerten und Schulungen anzubieten, die auch Inhalte umfassen, die über das Dolmetschen hinausgehen, wie etwa Psychotherapiemethoden, Trauma und Traumatherapie, Lebensbedingungen von AsylwerberInnen, Asylgesetzgebung etc.
Auch Tribe & Sanders vertreten die Meinung, dass sowohl das medizinische Personal (clinicians) als auch DolmetscherInnen eigens geschult werden sollen, um die PatientInnen optimal versorgen zu können, insbesondere im Bezug auf psychische Gesundheitsversorgung (mental health). Diesbezüglich orten sie fehlendes Bewusstsein bei einigen MedizinerInnen, die das Dolmetschen als eine reine Hilfstätigkeit betrachten, die unbezahlt verrichtet werden sollte: „Some of the clinicians (paid) felt that it should remain a ‚Cinderella‘ service, with the interpreters undertaking their work on a voluntary basis or being paid a minimum amount. The reasons given were that they were not professionals and had no recognised training“ (2003: 57). DolmetscherInnen sollten zwischen Psychiatern, Psychologen, Psychotherapeuten und psychosozialen Beratern differenzieren können, außerdem Bescheid wissen über posttraumatische und somatische Reaktionen, Depressionen etc. Zudem sollten DolmetscherInnen laut Tribe & Sanders bereits im Vorfeld auf schwierige Situationen vorbereitet werden, wie etwa darauf, dass KlientInnen auf sie zukommen könnten mit der Bitte, gewisse Informationen nicht an den Psychotherapeuten weiterzugeben, oder auch darauf, dass KlientInnen psychotische Reaktionen an den Tag legen könnten. Die Grundzüge der Rolle der DolmetscherIn sollte ebenfalls bei solchen Fortbildungen vermittelt werden, beispielsweise an Hand von Rollenspielen. Andere wichtige Punkte sind ethische Überlegungen, die Bedeutung absoluter Verschwiegenheit und die Bedeutung des exakten Dolmetschens, also das Bestreben, möglichst nahe an der Wortwahl der KlientIn zu bleiben (2003: 58ff.). Tribe & Sanders präsentieren außerdem eine Liste von Richtlinien für die Arbeit mit DolmetscherInnen und plädieren insgesamt dafür, dem Dolmetschen als Tätigkeit und der DolmetscherIn als Person genügend Zeit und Raum einzuräumen (2003: 61ff.).
Der Familientherapeut Maxwell Magondo Mudarikiri berichtet von einer Episode, die anschaulich zeigt, was passieren kann, wenn die Präsenz der DolmetscherIn und ihre aktive Teilnahme am Gespräch nicht ausreichend Berücksichtigung finden (2003: 189): Eine Patientin vertraute sich der Dolmetscherin an, und diese gab die Informationen nicht an den Therapeuten weiter, sondern unterhielt sich mit der Patientin und ging auf ihre Sorgen ein. Erst auf Nachfrage des Therapeuten erzählte sie, dass sie die Klientin um Erlaubnis gebeten hatte, die Informationen an den Therapeuten weiterzugeben. Selbstkritisch stellt Mudarikiri fest, dass er es verabsäumt hatte, die Dolmetscherin über ihre Rolle aufzuklären, da er davon ausgegangen war, dass die Dolmetscherin wissen würde, was zu tun war – dies war allerdings offenbar nicht der Fall.
With hindsight I would have benefited from making adequate time available prior to the start of this session in order to build up a working relationship with the interpreter, and to clarify the roles that each of us would take in the work. I had not created the space to empower the interpreter to make an equal contribution to the work before it was started. The interpreter may not have had a context from which to make sense of the questions that I was asking, and what theoretical ideas were underpinning my questions (2013: 190).
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