Er ließ sie nicht zu Wort kommen. Nachdem er die Wohnung betreten hatte, ging er mit aggressiven Schritten auf sie zu. Claire sah die Wut, die sein Gesicht verzerrte und verspürte plötzlich eine heillose Angst vor ihrem Bruder. Sie hatte schlimme Schmerzen. Sevardo und Celentano hatten sie übel zugerichtet, doch das konnte Mel Kowalski nicht sehen. Erst als die Schmerzen unerträglich geworden waren, hatte sie weinend ihre Bereitwilligkeit bekundet, zu reden.
Sie hatte, als die grausamen Kerle ihre Wohnung verlassen hatten, gehofft, dass Mel die Begegnung mit ihnen überleben würde.
Mel hatte überlebt.
Doch nun erkannte Claire, dass sie sich darüber nicht freuen durfte. Er versetzte ihr einen brutalen Faustschlag, der sie zu Boden warf. Sie stieß einen krächzenden Schrei aus.
„Mel ...“
„Das hast du dir so gedacht, du verdammtes Biest!“, fauchte Kowalski.
„Mel, ich konnte nicht ...“
„Dreckige Verräterin!“
„Mel, ich bitte dich, hör mich an!“
Kowalskis Gesicht schien zu einer Wachsmaske zu erstarren. In seinen Augen war ein gefährliches Glitzern. Er ließ seine Hand in die Hosentasche gleiten, und gleich darauf zog er ein Springmesser heraus. Als die Klinge aufschnappte, wusste Claire, dass ihre letzte Stunde geschlagen hatte.
Diese schreckliche Erkenntnis zwang sie, gellende Hilfeschreie auszustoßen!
Roberto hörte die Schreie und jagte die Treppe wie von tausend Teufeln gehetzt nach oben. Er rammte seinen Fuß gegen die Tür, nachdem er die Luger aus der Schulterhalfter gerissen hatte. Die Tür schwang zur Seite.
Roberto überblickte die Situation mit einem einzigen Blick.
Ein Mädchen lag auf dem Boden. Claire Kowalski. Sie schrie sich ihre Todesangst mit vollen Lungen von der Seele. Mel Kowalski stand über ihr. Er hatte ein Messer in seiner Rechten und wollte in dem Moment zustechen, wo die Tür gegen die Wand donnerte.
„Stopp, Kowalski!“, schrie Roberto Tardelli schneidend.
Er machte einen Sprung vorwärts.
Der Killer zuckte wie unter einer Serie von Faustschlägen zusammen. Er richtete sich aus seiner geduckten Haltung langsam auf, entspannte sich, drehte sich um, sah Roberto Tardellis entschlossene Miene und ließ das Messer wortlos fallen.
Roberto verlangte von ihm, er solle das Messer mit dem Fuß ein Stück zur Seite schieben.
Mel Kowalski kam dieser Aufforderung unverzüglich nach.
Claires Geschrei war verstummt Sie lag heftig zitternd und laut schluchzend auf dem Boden. Sie war nicht imstande, sich zu erheben. Ihr Bruder! Ihr eigener Bruder hatte sie ermorden wollen. Das ging in ihren pochenden Kopf einfach nicht hinein.
Roberto und Kowalski sahen einander lauernd an. Voll brennender Ungeduld hatte Roberto diesen Moment herbeigesehnt. Nun war er da.
„Diesmal“, sagte der COUNTER CRIME-Agent hart, „müsstest du zaubern können, um noch mal davonzukommen!“
Es war irre, aber es passierte. Roberto Tardelli war felsenfest davon überzeugt, dass Mel Kowalski keine Chance mehr hatte. Der CC-Agent war kein blutiger Anfänger. Er wusste, wie man sich in solchen Situationen zu verhalten hat, und es stand für ihn fest, dass für Mel Kowalski ab diesem Augenblick der Ofen aus war.
Wie hätte er auch ahnen sollen, dass ausgerechnet die Polizei dem Killer zu Hilfe kommen würde. Ausgerechnet die Polizei!
Zwei Cops kamen die Treppe hochgeschnauft. Die Leute im Haus hatten, als sie die Hilfeschreie des Mädchens vernahmen, die Polizei angerufen. Nun wollten die beiden Uniformierten mit schussbereiten Waffen schnellstens für Ordnung sorgen.
Sie verstanden die Situation so falsch, wie sie nur verstanden werden konnte.
Da lag ein Mädchen auf dem Boden, ein Mann stand mit erhobenen Händen neben ihr – und ein anderer Mann hielt die beiden mit seiner Luger in Schach.
Mel Kowalski bewies, dass er phänomenal zu reagieren wusste. Der Killer erkannte urplötzlich, dass die Bullen nicht die richtigen Schlüsse zogen. Er verwandelte diesen Irrtum augenblicklich zu einem riesigen Vorteil für sich, indem er krächzte: „Lieber Himmel, zu Hilfe!“
Die Dienstwaffen der Cops richteten sich auf Roberto, der vor Wut zu kochen anfing.
„Pass auf, Junge, du lässt jetzt auf der Stelle die Luger fallen!“, schnarrte der eine Cop.
„Er ... er ist in unsere Wohnung eingedrungen!“, rief Kowalski. Der Killer spielte den Verstörten so gut, dass die Cops auf ihn einfach hereinfallen mussten. „Er wollte meine Schwester und mich umbringen. Ich weiß nicht, weshalb. Er muss verrückt sein.“
„Wird‘s bald?“, hörte Roberto dieselbe Stimme noch einmal schnarren. „Trenn dich von deiner Kanone, sonst kann ich für deine Sicherheit keine Garantie übernehmen!“
„Hören Sie, ich ...“, wollte Roberto beginnen.
„Erst die Waffe weg.“
Roberto ließ die Luger fallen. Der Cop nahm sie an sich. In Kowalskis Augen war ein triumphierendes Flackern.
„Arme auf den Rücken!“, befahl der zweite Cop.
Roberto hörte Handschellen klimpern. „Sie verkennen die Situation!“
„Natürlich. Du wolltest den beiden nur mal zeigen, was du für eine schöne Luger hast. Konntest ja nicht wissen, dass das Mädchen gleich vor Schreck umfallen würde, nicht wahr?“, meinte der Polizist. Roberto wurden die Arme nach hinten gerissen, und dann machten die Achterspangen – klick. Darüber amüsierte sich Mel Kowalski. Doch das fiel leider nur Roberto Tardelli auf.
Roberto versuchte den Cops die Lage zu erklären, doch sie ließen ihn nicht zu Wort kommen. Sie rieten ihm, alles, was er sagen wollte, auf dem Revier vorzubringen, und sie baten Mel Kowalski – welche Ironie –, als Zeuge mitzukommen.
Der Killer erklärte sich damit selbstverständlich sofort einverstanden. Er bat die Uniformierten, sich nur noch schnell etwas aus dem Schlafzimmer holen zu dürfen.
Roberto warnte die Cops.
Er sagte ihnen, wenn sie das zuließen, würden sie Kowalski nie mehr wiedersehen.
Der Killer bekam ihre Erlaubnis trotzdem.
Mel Kowalski stieg im Schlafzimmer aus dem Fenster, tänzelte über den schmalen Sims davon – und kam nicht mehr wieder, wie Roberto Tardelli es prophezeit hatte.
Wenn jemand Roberto erklärt hätte, dass die Polizei Mel Kowalski einmal die Flucht ermöglichen würde, hätte er den Mann für verrückt gehalten. Doch die Wirklichkeit hatte gezeigt, dass alles möglich war.
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