Die Aufzugstüren gleiten auseinander, der strenge Roomboy kommt ihr entgegen. Neben ihm jemand, der sehr geschäftlich wirkt, und ein grauhaariger Mann mit Arztkoffer. Der Roomboy zeigt mit dem Finger: »Das ist sie!«
»Ihnen ist nicht gut?«, fragt der Geschäftliche.
»Geht Sie das was an?« Sie schluckt ihre Rotze herunter. Ihr Finger berührt den E-Knopf.
Der Mann greift ihr an die Schulter. »Dann geht es Ihnen wohl besser, das freut mich zu hören. Und gut, Sie noch anzutreffen«, sagt er. »Wir konnten Sie gestern leider nicht erreichen. Es gibt ein kleines Problem mit Ihrer Kreditkarte, Sie haben doch bestimmt noch andere Zahlungsmöglichkeiten? Und es gab ein Versehen, einer Dame wurde ein Einkauf mit Kleidung geschickt, der unglücklicherweise an der Rezeption bei Ihnen gelandet ist? Diese Tüte bräuchten wir selbstverständlich zurück. Waren Sie denn gestern noch auf der Premiere?«
Er schaut sie an, von oben bis unten. Ihre Haut kribbelt. Die Handflächen kleben. Der Magen an der Schädeldecke. Was für eine Premiere? Der Mann stinkt. Raucherschweiß und Aftershave. Der Teppich riecht nach Hund.
Sie reißt sich los, er bleibt irritiert stehen.
Während die Aufzugtüren sich schließen, hört sie den Mann ohne Schuhe sagen: »Nein, ich kenne sie auch nicht.«
Sie nimmt sich vor, erst außerhalb des Hotels zu kotzen. Auf dem begrünten Mittelstreifen, an einer auch bei Hunden sehr beliebten Stelle.
Man kann ja viele Dinge steuern. Mit hohem Fieber eine Premiere singen, eine Geburt überleben, obwohl man währenddessen merkt, das geht nicht, das ist zu groß, es lebt schon mehr, als man vorher ahnte, und die Schmerzen hebeln jede eigene Wahrnehmung aus. Sie hatte immer das Gefühl, einen Vertrag mit ihrem Körper schließen zu können, dem zufolge er erst nach dem Erbringen einer bestimmten Leistung zu seinem Recht kommen durfte.
Bis auf die Straße, das ist diesmal das gesetzte Ziel.
Der Aufzug spuckt sie in hellen Marmor. Sie schwankt auf einen Tisch mit vielen Vasen zu. Blitzschneller Richtungswechsel. Dahinten das Licht, sehr fern hinter dem vor Betriebsamkeit surrenden Foyer. Sie presst den Mund zusammen. Denn wenn das hier danebengeht, halten die sie fest. Schneller. Sie rammt zwei Männer in Polohemden, die sie anstieren. Sie weicht aus. Das Plätschern eines Springbrunnens knallt ihr entgegen, überall Sessel und Tische. Der Boden ist weich unter ihren Füßen, ein Teppich, beige-bordeaux gemustert. Eine Gruppe Frauen strecken ihre Pos für ein Gruppenfoto zusammen. Parfums kreischen durcheinander. Der Geruch von Kaffee weht herüber, ihre Übelkeit drückt gegen den Gaumen. Sie beugt sich nach vorn, ihre Beine versuchen, nachzukommen.
Eine Frau von der Rezeption rauscht auf sie zu, weiße Bluse, geknotetes Tuch, sie ruft etwas. Wieder Richtungswechsel. Vom Klavier metallischer Chopin. Sie wühlt sich zwischen eine Rentnergruppe, aufgeblasene Stirnen, glänzend gekämmte Haare, Sahnegeruch von Cremes. Die Frau von der Rezeption nähert sich, wird von einem Mitglied der Rentnergruppe aufgehalten. Die Schuhe sind viel zu klein. Sie fixiert die Drehtür, holt tief Luft und stolpert ihr entgegen, der Mund ist voll, sie presst die Lippen aufeinander, nur noch wenige Meter nach draußen, sie trippelt, schluckt, die Säure drängt von innen gegen die Lippen. Ein Mann mit einer rosa Papiertüte steuert aus der Drehtür auf sie zu, ihre Beine bremsen, ihr Oberkörper wirbelt nach vorn, mit Nähmaschinenschrittchen in die Drehtür, sie fliegt nach draußen.
Sie stürzt zwischen den Taxis auf die Straße, ein Page in dunkelroter Uniform zieht sie zurück, ein Touristenbus donnert vorbei, seine Hand auf ihrem Rücken, sie reißt sich los, sieht zur Mittelinsel. Gras und eine Mülltonne, ein Fahrrad bremst. Sie prescht durch das Orange einer Touristenfahrradgruppe über die Straße, der überquellende Mülleimer neben einer Bank, ein Busch, sie weicht der Hundekacke aus und hält sich beim Kotzen die Haare aus dem Gesicht.
Ausgewrungen fällt sie auf die Bank. Vergorene Sommerluft, überall Moder und Dreck. Der Hals kratzt, der Kopf sticht. Wo fängt sie an? Wann hat sie die Kinder zuletzt gesehen? Wo waren sie? Sie kann sich nicht erinnern.
Panik steigt auf. Atmen. Tiefer. Sie legt sich hin, schließt die Augen.
Sie hält ihre weichen Hände. Auf ihrer linken Brust liegt der Flaum eines schweren Kopfes. In ihrer rechten Hand spürt sie die weichen Fingernägel einer Kinderhand, die beim Einschlafen zuckt.
Sie hat sie ins Bett gebracht. Wo ist dieses Bett?
Sie waren zusammen. Ein kleines Zimmer. Zwei aneinandergestellte Betten aus billigem Holz. Gelbe ausgekochte Bettwäsche. Sie hatten keine Schlafsachen, keine Schlafanzüge, keine Zahnbürsten. Kein Buch zum Vorlesen. Sie haben sich sofort ins Bett gelegt. Sie in die Mitte auf die Ritze, in ihren Armen die Kinder. Neben das Bett hatte sie auf beiden Seiten Stühle geschoben. Nein, nur auf der einen Seite einen breiten Stuhl, auf der anderen die einzige Kommode in diesem Zimmer. Die Kommode war schwer, sie quietschte laut beim Schieben, aber so konnte der Kleine nicht rausfallen in der Nacht. Sie hatten alle nacheinander noch einmal gepinkelt, im Flur gab es eine kleine Toilette mit starkem Pfirsichduft. Dann lagen sie im Bett. Neben ihnen ein Zahnputzbecher mit lauwarmem Wasser aus der Leitung, denn die beiden hatten immer Durst, sobald sie das Licht ausmachte. Dunkeldurst. So hatten sie dazu gesagt.
Sie war so glücklich, als sie die Kinder an diesem Abend wieder bei sich hatte. O Gott, ja. Sie war nach Herberts Besuch fast zu spät in der Kita gewesen. Sie hatte versucht, die Zeit zu überholen. Und musste sich auf dem Weg bei Greg in der Bar noch Geld leihen.
Wie hatte sie sie danach überhaupt loslassen können? Sind sie noch im Hotel mit der gelben Bettwäsche? Sie hatte sie am Nachmittag ja nur in der Kita vergessen. Und den Schlüssel in ihrer Wohnung.
Nein. Nicht vergessen. Das war alles wegen Herbert.
BETON
Wie lange hat sie hier gelegen? Sie fühlt sich wie betäubt. Der Moder bedrängt sie mit seiner Süße. Sie muss endlich aufstehen, aber sie klebt an der Bank fest. Ihr Körper hat sich in Beton verwandelt. Nie gekannte Schwere. Nicht einmal der Kopf lässt sich heben. Langsam. Nicht wackeln.
Das gelbe Zimmer.
Der Milchgeruch der Haare zieht sie hoch.
Aber in welche Richtung?
Unbedingt zum gelben Zimmer.
Oder hat Herbert die Kinder geholt?
Nein, war ihm alles sehr unrecht. Er hatte sich sofort aufs Beistellbett gelegt. Es war ihr letzter gemeinsamer Urlaub gewesen. Ungefähr zwei Jahre war das her. Ein paar Tage Mallorca. Er veröffentlichte direkt danach das siebte Sequel seines ersten Spiels, ein Krieg zwischen zwei verfeindeten Bauernhöfen, und sie musste nach Helsinki, kurzfristige Übernahme, Brunhild in der Götterdämmerung, die Kollegin hatte eine Stimmbandentzündung. Die Kinder würde sie mitnehmen, abends einen finnischen Babysitter ins Hotel bestellen. Die Kinder bei ihm zu lassen hatte nie zur Debatte gestanden.
Aber erst einmal wollten sie sich erholen. Sie nahmen ein gutes Hotel im Norden Mallorcas, ziemlich teuer, sie bestand darauf: »Komm, nur fünf Tage! Für was geben wir denn sonst Geld aus!«
Das Hotel wachte majestätisch auf einem Hang über die Gärten und das Meer. Sie nahmen nur ein kleines Zimmer, keine Suite, das wäre Herbert dann wirklich zu teuer gewesen, obwohl er mit Acker 7 unglaublich viel Geld verdient hatte, aber wenn es ans Ausgeben ging, konnte er sich nur unter großen Schmerzen dazu überwinden. Im Hotel spürte er in den Gliedern, wie ihm ununterbrochen das Geld aus den Taschen gezerrt wurde. Die Kellner nagten an seinen Fingern. Er konnte nicht mal im Bett liegen, ohne zu kommentieren, was diese Minuten bis zum Frühstück jetzt wieder kosteten. Und das Frühstück erst! Er musste aufpassen, dass ihm vom Wissen über diese Kosten nicht so schlecht würde, dass er nicht mal mehr frühstücken könnte, er also bezahlen müsste, ohne dass er überhaupt eine Leistung erhalten hätte. So wie er sich auch immer ärgerte, wenn er für die U-Bahn ein Ticket gekauft hatte, die Kontrolleure aber trotzdem ausblieben.
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