Der Herd war Thomas immer riesig vorgekommen, mit emaillierten Türen und Klappen an der Front und einer Ofenröhre, in der meist die Reste vom Mittagessen warm gehalten wurden oder ein paar Äpfel schmorten. Über dem Herd hingen Kräuter an einer dürren Holzstange. Die Kräuter − Majoran, Oregano, Dill, Pfefferminze − wuchsen in Großmutters Garten. Am Samstag, dem Tag, den er von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang bei ihr verbringen durfte, sah er ihr oft stundenlang bei der Arbeit zu und lauschte den Geschichten, die sie nebenher erzählte.
Großmutter hatte sich jeden Tag für ihn eine neue Geschichte ausgedacht und nie wiederholte sie sich dabei. Am liebsten hörte er die Abenteuer von Schnipp-Schnapp, dem kleinen Fuchs: Es war ein wunderschöner Tag im Wald. Die Vögel zwitscherten und über den blauen Himmel trieben ein paar fröhliche Schönwetterwolken. Tief unten im Fuchsbau wurde unser Schnipp-Schnapp wach. Er gähnte – Großmutter gähnte – und streckte sich – Großmutter unterbrach kurz ihre Arbeit und streckte sich – dann kletterte er schnell aus dem Fuchsbau raus und rannte runter an den Bach.Dort wusch er sich das Fell, das Gesicht und die Pfoten (genau in dieser Reihenfolge!) und putzte seine spitzen Schnipp-Schnapp-Zähne. Als er wieder nach Hause kam, hatte seine Mutter schon eine Schüssel Heidelbeeren und eine dicke, fette Maus für ihn zurechtgelegt … So und niemals anders begann jede der unzähligen Geschichten von Schnippi.
Am Umfang der Kräuterbündel und an ihrer Farbe konnte Thomas immer ziemlich exakt die Jahreszeit ablesen. Drängten sich die prallen Bündel dicht aneinander und zeigten die Blättchen noch ein letztes Grün, war es Herbst und die Tage wurden kürzer. Hingen nur noch wenige kahle Stängel über dem Herd, ihre Farbe ein undefinierbares, schmutziges Grau, auf dem sich ebenso graue Staubfäden sammelten, war das Frühjahr nicht mehr weit und er suchte unter den Birken hinter dem Haus nach ersten Schneeglöckchen.
Hier bin ich zu dir gekommen, sagte Nummer eins.
Thomas nickte. Er drückte die Aktentasche noch etwas fester an sich. Er war damals erst sechs und sein Großvater wenige Wochen tot und in der linken Hosentasche wartete Thomas’ erster heiliger Knopf auf Großmutters Tod. Großmutter brachte fast täglich ein neues Bündel Kräuter aus dem Garten und, es war September, heizte bereits am Morgen den Emailherd an. Bei schönem Wetter − an diesem Tag war schönes Wetter − dauerte es oft lange, bis der Rauch des knisternden Holzfeuers den Weg durch den Schornstein hinauf aufs Dach des Bauernhauses gefunden hatte. Dicke, weißblaue Wolken quollen anfangs aus jeder Ritze des Herdes. Auf der Kochfläche des Herdes waren run de gusseiserne Platten eingelassen, die Großmutter manchmal mit einem Feuerhaken herausnahm, um einen besonders großen Scheit Holz, der nicht durch die Ofentür passte, ins Feuer zu legen. Der Qualm, der aus den Plattenritzen hervorkam, bildete kreisrunde Rauch kringel, wie vom gespitzten Mund eines rauchenden Riesen geformt. So wie damals.
Kräuter, der Geruch nach beißendem Qualm und die Pfannkuchen, die seine Großmutter briet, verwoben sich zu einer olfaktorischen Meis terkomposition und waren die duftende Erinnerung, die immer zur Stelle war, wenn Nummer eins sich zu Wort meldete. Was auch erklärte, warum Thomas sich wohl und sicher, ja fast geborgen fühlte, wenn er die Stimme von Nummer eins in seinem Kopf hörte.
An jenem Septembertag, er saß mit einem Teller auf dem Schoß und einer Gabel in der Rechten auf seiner kleinen Kommode neben dem Herd, machte Großmutter Thomas’ Lieblingsessen: Pfannkuchen mit Sauerkirschmarmelade. Sie briet einen Teigfladen nach dem anderen in einer kleinen Pfanne und ließ sie auf seinen Teller rutschen, bestrich sie mit Marmelade und schnitt sie in kleine Stücke. Immer die laut brutzelnde Pfanne im Auge, beeilte sich Thomas, vor seiner Großmutter fertig zu sein. Beim ersten Pfannkuchen gelang ihm das locker, beim zweiten schmolz sein Vorsprung schon dahin und als der vierte fertig in Großmutters Pfanne lag, war sein Teller meist noch halb voll – Zeichen zum Aufhören.
Na, den einen wirst du doch wohl noch schaffen!
Das waren die ersten Worte, die Nummer eins zu ihm sagte. Thomas erschrak, sah sich überall im Raum um − aber außer ihm, seiner Großmutter und Goethe, Großmutters altem Kater, der in einer Holzkiste unter dem Herd schlief, war niemand in der Küche.
An mich wirst du dich gewöhnen müssen, ich gehöre jetzt zu dir, hatte Nummer eins gesagt.
»Und wer bist du?«, hatte Thomas laut gefragt.
»Wer ist wer?« Großmutter hatte ihn damals ziemlich verwirrt angesehen.
Seit diesem Tag verzichtete Thomas darauf, laut mit seinen Stimmen zu sprechen. Erst Jahre später, mit dem spektakulären ersten Auftritt von Nummer drei, sollte sich dies ändern.
Hier in der engen Kabine roch es muffig und nach kaltem Metall. Die Dunkelheit hätte ihm zwar gern dabei geholfen, sich an jeden beliebigen Ort der Welt zu träumen und ihn durch keine störende Realität von seinen Fantastereien abgehalten, doch waren die Gerüche im Aufzug wie ein Gewicht, das seinen Geist in die enge Kabine zwang.
Die schwarze Aktentasche unter den Arm geklemmt, ließ Thomas seine Finger über die kühlen Wände wandern. »Dinge, die du kennst, verlieren ihren Schrecken«, hatte Großmutter einmal zu ihm gesagt, als er sich wegen eines undefinierbaren Rumpelns nicht in die schumm rige Küche traute. Mit diesen Worten war sie vor ihm hergegangen und hatte, nach einem kurzen Blick durch den Raum, auf die Ursache des Geräusches gezeigt. Goethe hatte auf der Suche nach etwas Essbarem einen Tonkrug mit Gänseschmalz umgeworfen. »Siehst du. Die ganze Angst hat sich nicht gelohnt.«
Die Metallplatten der Fahrstuhlkabine, tastete er, stießen bündig aneinander. Sie waren mit eingelassenen Schrauben befestigt und uneben, wie gleichmäßig mit einem runden Hammer bearbeitet. Als er anschließend den glatten Linoleumboden untersuchte, fand er seinen Ball. Glücklich steckte ihn Thomas ein.
Nummer eins: Also wenn ich du wäre, würde ich jemanden anrufen! Thomas stutzte, dann richtete er sich auf. Nummer drei: Oder uns die Telefonschnur, hihi, um den Hals wickeln hihihi. Jaaaa! Und dann musst du auf das Geländer steigen und dich in die Tiiiefe stürzen, hihi.
Richtig! Neben den Knöpfen für die einzelnen Etagen war in fast jedem Aufzug ein Telefon. Für Notrufe. Oder diskrete Ferngespräche mit Menschen in einem Aufzug in Hamburg oder Moskau oder …
PARIS!, schrie Nummer zwei dazwischen.
Thomas suchte rechts und links der Tür nach dem Telefon. Auf der rechten Seite − Natürlich rechts. Wenn man sich recht erhängen will, dann muss das Telefon rechts sein. Hihi, und alles wird recht, wenn’s recht ist, solange es nur, hihi, rechts ist − fand er den Apparat. Als seine Fingerspitzen aber den rauen Kunststoff des Hörers und die in sich gewundene lange Schnur entdeckten, fuhr er zurück als habe er sich verbrannt. Wie viele Menschen mochten wohl schon damit telefoniert haben? Hunderte? Tausende?
Andererseits hatte Thomas noch nie jemanden in einem Aufzug telefonieren sehen.
Er war nervös und knabberte an seinem Daumen, wo die kleinen Wunden, die entstanden, wenn er in Gedanken verloren die Haut abnagte, nie verheilten.
Also ich würde das Dreckding da nie und nimmer anfassen! , Nummer drei war da! Stell dir vor, ein Tuberkulosekranker hat seinen feuchten Sabber da reingehustet. Oder Aidskranke! Wir sind hier in einem Krankenhaus, sicher gibt’s da auch Aidskranke, die, mit nässenden Eiterschwielen an den Händen, gern mal irgendwo ungestört mit ihrem Lover telefonieren. Nein, nein, nicht anfassen. Bloß nicht anfassen.
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