»Schwästerrr?«
Eva konnte nicht anders, sie musste lächeln.
»Schwester, wissen Sie, ein wenig Angst hat noch keinem geschadet. Ist es nicht ganz normal sich zu fürchten, wenn man sich plötzlich einer unerwarteten, fremden Situation gegenübersieht?«
»Lea, meine Tochter, sie ist erst sieben. Sie ist bei einer Nachbarin. Hoffe ich.«
»Und Ihr Mann? Sie haben doch einen Mann?«
Eva nickte. Sie spürte Tränen in sich aufsteigen. Für diesen Moment konnte sie sie noch hinunterschlucken, aber sie wusste, dass der Pegel in ihr langsam anstieg und irgendwann überlaufen musste. »Mein Mann ist gestern Morgen nach Schweden geflogen. Glauben Sie, dass nur hier Flugzeuge abstürzen? Bei meinem Mann wird doch alles in Ordnung sein, oder?«
Hans saß vielleicht irgendwo in Südschweden fest. Wie würde es für sie und wie für Hans weitergehen, sollte sich nicht alles schnell wieder normalisieren? Wie ging es Lea? Sie versuchte diesen Gedanken mit aller Macht aus ihrem Kopf zu verbannen, aber je stärker ihr Bemühen, so schien es, desto übermächtiger und klarer wurde dieser Albtraum! Weit über eintausend Kilometer lagen zwischen ihnen. Ganz Deutschland und die Ostsee.
Glück nahm Evas Hand und zog sie zu sich heran. »Darauf weiß nur Gott allein eine Antwort. Und Ihr Herz.«
»Mein Herz.« Eva starrte aus dem Fenster. »Ich weiß gar nicht, wie viele Menschen heute Morgen wohl ums Leben gekommen sein müssen. Keine einzige Maschine kreist mehr! Und alles passiert hier bei uns, keine zehn oder zwanzig Kilometer entfernt! Es macht mir Angst, dass so etwas passieren kann. Und dass es hier geschieht und nicht in Amerika oder Japan.« Sie streckte sich, griff mit beiden Händen hinter den Kopf und zog den blauen Haargummi straff, der ihre braunen Locken bändigte. »Wenn ich nur anrufen könnte und wüsste, wie es Lea und Hans geht.« Jetzt konnte sie die Tränen nicht länger zurückhalten.
»Mein Mädchen, komm, setzen Sie sich einen Moment zu mir.« Eva zögerte. »Oder haben Sie etwas Wichtigeres zu tun?«
»Sie haben keine Angst, oder?« Eva folgte der Einladung und setzte sich auf die Bettkante. »Sie wirken so ruhig … als könne Sie nichts mehr erschüttern.«
Aleksandr Glück hob die Augenbrauen. Über seine Lippen tanzte ein Lächeln − und Wissen.
»Wie lange liege ich jetzt schon hier?«, fragte er.
Eva wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab. »Vier Wochen«, antwortete sie.
Glück war vor vier Wochen der größte Teil des rechten Lungenflügels entfernt worden. Lungenkrebs, obwohl er, abgesehen von einer riesigen Zigarre zusammen mit Schulfreunden, niemals geraucht hatte. Lungenkrebs mit Metastasen in Leber, Darm und im Gehirn, wie in einer späteren Untersuchung festgestellt wurde. Die Diagnose war für den Einundsiebzigjährigen ein Hammerschlag. Als ob ihm im vollen Lauf jemand ein Bein stellte. Lungenkrebs. Vor der Operation machten ihm die Ärzte noch Hoffnung, sagten, er könne durchaus noch fünf, sechs Jahre leben, vorausgesetzt, das komplette Geschwür könne entfernt werden. Aber nachdem die Metastasen gefunden waren, hörte er keine konkreten Zahlen mehr, wenn er nach seiner Lebenserwartung fragte. Die Ärzte wichen seinen Fragen aus und wechselten das Thema oder vertrösteten ihn auf später. Und so verlegte er sich aufs Zuhören und Beobachten. Glück hörte zu und zählte eins und eins zusammen. Und begann zu verstehen.
Aleksandr Glück, aufgewachsen in einem sibirischen Lager, in dem während des Zweiten Weltkrieges Kollaborateure, unwichtige Kriegsgefangene und vor allem Deutschstämmige interniert waren, die generell Hochverrätern gleichgesetzt wurden, hatte früh gelernt, in der Stille der eigenen Gedanken die Dinge des Lebens zu verstehen. Und Entscheidungen zu treffen. Und so kam es für Professor Kellermann, der den Patienten noch in seliger Unwissenheit glaubte, völlig unerwartet, als der ihn bei einer der morgendlichen Visiten mit seinem Wissen um seinen baldigen Tod konfrontierte. Er bat den Chefarzt eindringlich um eine ehrliche Prognose. Kellermann legte sich auf höchstens sechs Monate fest, eher weniger.
Aber anders, als von seiner Umgebung erwartet, verfiel Glück nicht in Trauer und Resignation. Für das Gros derer, die mit einer solchen Aussage konfrontiert wurden, bedeutete das Rückzug und Depression. Sie verfielen in Selbstmitleid und ihre Gedanken kreisten, wie die Erde um die Sonne, unablässig um die eine, nie zu beantwortende Frage: warum ich?
Aleksandr Glück tröstete seine Frau, die, als er ihr die Nachricht versuchte schonend beizubringen, laut schreiend vor seinem Bett auf die Knie fiel.
»Wenn man, so wie ich, demnächst sterben muss, Schwester, dann verschieben sich die Relationen.« Er nahm ihre Hand. »Ich bin jetzt vier Wochen hier und an die meiste Zeit davon kann ich mich nicht erinnern.« Glück hatte achtzehn Tage im künstlichen Koma gelegen und war von Maschinen beatmet und ernährt worden. »Keiner weiß, warum die Flugzeuge abstürzen, warum kein Wasser läuft und …«
»… der Strom weg ist und keine Computer und Telefone funktionieren«, ergänzte Eva und putzte sich die Nase.
»Aber ich weiß«, fuhr Glück fort, »dass für mich heute ein schöner Tag ist. Sie sind hier Schwester und da die Station wohl fast leer ist, haben Sie ausnahmsweise einmal richtig Zeit für mich. Später wird meine Frau kommen und ich habe vielleicht noch nie einen so herrlich reinen Himmel gesehen wie heute«, sein Blick wanderte aus dem Fenster. »Nur dieses Brummen stört.«
»Das Notstromaggregat im Hof.«
Aleksandr Glück sah auf die batteriebetriebene Uhr über der Tür. Sie tickte weiter als sei nichts geschehen und zählte in regelmäßigen Intervallen die verfließende Zeit, egal ob es gute oder schlechte Zeit war. »Können Sie mir einen Kaffee bringen? Ich weiß, ich soll am besten Kamillentee trinken, aber von einem kleinen Tässchen werde ich bestimmt nicht gleich sterben.«
Eva stand mit einem wiedergefundenen Lächeln auf. »Mal sehen, was ich machen kann.«
09:03 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen, Aufzug 2
Zwei Kategorien von Ängsten gibt es: Eine Angst macht den Ängstlichen klein und allein, lähmt ihn und er bleibt sitzen mit seiner Angst wie das Kaninchen vor der Schlange. Die andere Angst ist eine gute Angst, die herausfordert und den Ängstlichen dazu bringt, sich zu wehren und zu kämpfen. Diese Angst macht ihn stärker und frei, während die erste Angst festkettet und den Ängstlichen dem Auslöser der Angst hilflos ausliefert.
Thomas Bachmann wusste noch nicht genau, welcher Art seine aktuelle Angst sein sollte. Noch immer war er ohne Licht, noch immer verharrte die Fahrstuhlkabine zwischen Keller und Erdgeschoss des Krankenhauses. Geräusche drangen kaum bis zu ihm vor und wenn, dann aus undefinierbarer Ferne. Um Hilfe geschrien hatte er bislang noch nicht.
Hilfe. »Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!«, hatte seine Großmutter immer gesagt und anschließend die Arbeiten verrichtet, für die eigentlich ein Mann zuständig gewesen wäre. Thomas’ Großvater fand selten Zeit, die Wünsche seiner Frau zu erfüllen. Also schlug sie selbst die Nägel in die Wand, schleppte Holz und Kohlen aus dem Schuppen über den eisglatten Hof und schlachtete Hühner.
Thomas spielte mit seinen heiligen Knöpfen. Der grüne Ball lag noch irgendwo in einer der Ecken der Kabine.
Das Haus seiner Großeltern war der Ort, den er als sein Zuhause bezeichnete. Genauer: die Küche seiner Großmutter. Noch genauer: Die kleine Kommode neben dem Herd war sein Zuhause (gewesen). Großmutters Küche war einer der seltsamsten Räume, die er jemals kennengelernt hatte. Die Küche war groß, mit niedriger Holzbalkendecke, von der Wärme und Geborgenheit in den Raum und seine Gäste strömte. In der hintersten Ecke hatte Großmutter, durch einen schweren dunklen Vorhang den neugierigen Blicken der seltenen Besucher verborgen, ihr Holzbett stehen gehabt. Großvater schlief in seinem Schlafzimmer.
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