Einer schien für immer gesichert, die edle Langsamkeit der Entschlüsse, eine praktische Vernunft ohnegleichen saßen ihm wie angeboren. Schneller als es sich sagen läßt, wird er ein großer Dulder, spannt sich an, kehrt um, bis er der erstaunlichste Abenteurer, ein Don Quichotte gar ist. Nicht wahr, das eröffnet Einblicke in das Wesen der Sowjetunion.
»Unser Bündnis mit Rußland wird den Krieg überdauern.« Nicht nur, weil beide auf der gleichen Seite kämpfen. Erst recht, weil sie mit verwandter Seele gekämpft haben und, ob sie wollten oder nicht, einander die Nächsten wurden. Wo ist das Jahr 1940, als England, zu spät, der französischen Republik die Vereinigung der beiden Reiche anbot! Großbritannien und die Sowjetunion, nur sie enthalten alle Kräfte, deren Europa bedarf, gesetzt, es sollte nochmals leben. Verantwortet wird das neue Europa von ihnen allein.
Großbritannien und die Sowjetunion haben niemals daran gedacht, einander nachzuahmen. Wollten sie es, wäre viel zu überwinden, ein konventioneller Abstand, noch größer als der praktische. Das Bewundernswerte ist, wie sie ohne Absicht, ohne Vorbild, dennoch zu gleichen Vollendungen gelangen. Nicht allein ist die britische Auffassung der Freiheit nunmehr abgewandelt in Richtung der Gleichheit – (ohne daß sie erreicht wird; wörtlich besitzt auch die Sowjetunion sie nicht). Sondern die andere Parallele, unerwartet, aber tief vorbereitet, tritt zutage. Die Sowjetunion errichtet wahrhaftig ein zweites Commonwealth.
Das sieht unmöglich, es sieht wie eine im voraus verlorene Wette aus. Jede der sechzehn Republiken soll ihre eigene auswärtige Politik haben; Polen würde mit der Ukraine zu tun bekommen, anstatt mit Moskau. Übrigens ist es dahin so weit wie zum britischen Kommunismus. Man begnüge sich mit der Neigung und dem Bekenntnis. Die Logik der Dinge wird begriffen, lange vor ihrer Verwirklichung. Offenbar verwandelt keine zentralisierte Autokratie sich über Nacht in eine Föderation. Das britische Reich hat mehr als hundert Jahre gebraucht.
Die Selbständigkeit der Sowjetrepubliken ist in ihrer Verfassung vorgesehen – nicht nur für ihre auswärtigen Angelegenheiten, sogar für ihre militärischen. Wenn beides schon heute durchgeführt wäre, könnte die Union diesen Krieg nicht bestehen. Damit wäre nicht bewiesen, daß der Vorsatz unernst ist. Aus der anerkannten Gleichheit der Menschenarten ergeben sich Rechte – auch Rechte, die in der Zukunft liegen, worauf es ankommt: den Punkt eins zu erreichen, wo die Selbstbestimmung der Republiken die Union nicht unsicherer macht, sondern sie befestigt. Das britische Commonwealth ist freiwillig und verbürgt einem Viertel der Erde seinen inneren Frieden.
Die Briten haben niemals befürchtet, Hitler werde mit der Sowjetunion fertig werden, weder in sechs Wochen noch überhaupt. Wer sowohl Antifaschist als auch Antikommunist war – aber Demokratie ist das noch nicht, sie setzt sich nicht aus Antis zusammen –, hat allenfalls gewünscht, Nazis und Rote möchten einander aufreiben und unschädlich machen. Das war alles, was man tun konnte, um die innere Annäherung an Rußland zu durchkreuzen. Es ist wenig. Unvergleichlich kühner handelte zu derselben Zeit die Moral.
Das Buch des Dean of Canterbury über die Sowjetunion, so bedeutend es ist, fällt doch nur unter die Symptome. Die wiedergeborene Moral schreit dermaßen zum Himmel, daß einer der höchsten Priester des Landes, wo sie das meiste gelten, nicht anders kann, als einstimmen. Es war aber sein Traum von je, so sprechen zu dürfen, von dem Heiland als seinem Zeitgenossen, von den Verheißungen des Heilands an die Armen, nur an sie, und von dem Ende des verhängnisvollen Unterschiedes, den die christliche Welt bisher krampfhaft festhält, zwischen Wirklichkeit und Lehre.
Der Abstand vom Wissen zum Handeln ist verringert, wenn nicht aufgehoben, in der Sowjetunion. Dies allein geht den Dean an, – nicht Worte wie Kommunismus. Die meisten machen sich mit Worten bezahlt. Wenn sie Entrüstung in die Aussprache des Wortes Kommunismus legen, fühlen sie sich mannhaft oder doch erleichtert. Es ist ihr fragwürdiges Gewissen, das sich hiermit beruhigt.
In Rußland ist mit der Verstaatlichung der Produktionsmittel der Kommunismus durchgeführt. Was die Gerechtigkeit schlechthin betrifft, werden Kommunisten wie andere Sterbliche sich ihr allenfalls annähern: ihr gleichkommen nie. Schon die Wirtschaft des einzelnen kann nach seinem Belieben außerhalb der Gemeinwirtschaften bleiben. Nur ist dafür gesorgt, daß wirtschaftliche Übermacht weder erlangt noch mißbraucht wird. So einfach ist das.
Den Antikommunisten außerhalb der Sowjetunion, den handgreiflichen wie den sprachlichen, fehlt die technische Kennerschaft dieses Geistlichen. Sie werden niemals richtig wie er angeben, was vorgeht bei den Sowjetvölkern, in dem kollektiven Ackerbau oder der Ölgewinnung, der Technik und Wissenschaft, die beide, von Rücksicht auf den Handel befreit, der menschlichen – und internationalen – Wohlfahrt helfen dürfen. Es wird ihnen keinen Eindruck machen, wenn sie hören, daß die Höchstgeehrten im Lande die Lehrer sind.
Die Abschaffung, das tatsächliche Ende aller Verfolgungen von Rassen, Religionen, Gedanken, dürfen sie nicht sehen – liberal, wie die Antikommunisten zu sein pflegen, und auch Juden sind sie oft. Aber sie sind ungläubig, daher würde sogar eine bessere Informiertheit sie nicht weiterbringen. Sie wollen nicht, und können nicht wollen.
Eine ganz ungewöhnliche Begabung muß sich, unter Schwierigkeiten wie den jetzt zeitgemäßen, finden und hervorarbeiten, damit jemand Moralist wird – vielleicht, ohne es zu wissen. Da ist Chaplin, ein Schauspieler, kein sittenstrenger Geistlicher. Sicherlich hat er, ganz von selbst, den Antrieb gehabt, sich in Szene zu setzen. Absichtsvoll die Existenz der Mühseligen nachzuleben, wie mancher Intellektuelle es zeitweilig tut, ist ihm nicht eingefallen.
Aber obwohl er von Anfang an besser als die Lohnarbeiter bezahlt wurde, teilte er dennoch ihr Lebensgefühl, und teilte es beständig. Es kostete ihn Aufrichtigkeit, aber keine Überwindung, damit er aus seinen, scheinbar glücklichen, Umständen eine arme, umgetriebene Gestalt ans Licht zog: sie war nun der wirkliche Mensch. Nicht seine bürgerliche Existenz, nur die lächerliche, reizende, bedauerns- und liebenswerte, die er fortan spielte, war wirklich. Die Gestalt verkörperte, bewahre, daß er es gewollt hätte, sittliche Forderungen. Das Publikum, höchst zweifelhaft gesonnen, nahm der Gestalt zuliebe Mahnungen hin, – jedem anderen hätte es sie verboten.
Es konnte nicht ausbleiben, daß die Bedeutung der Gestalt, die zuerst als wehmütiger Spaß gedacht war, ihrem Urheber aufging; daß sie über ihn Macht gewann, ihn selbst zu einem Geisteskind und Empörer machte: das letzte was er jemals von sich erwartet hätte. Da zeigt er, in einem seiner späten Filme, die Arbeit am laufenden Band – ein schauerlicher Wettlauf des Menschen mit der Maschine, eine groteske Atemlosigkeit, nur erträglich, weil grotesk. Offen, kaum noch statthaft, erklärt sich die Drohung: so geht das nicht lange. So wird mit Menschen nicht verfahren.
Chaplin, in Amerika verhaßt bei allen, die für das laufende Band sind, ist Engländer geblieben. Kommunist, nein. Seine Begabung ist die Moral.
Auch der Dean of Canterbury ist nicht Kommunist. Westeuropäer werden es in der östlichen Bedeutung selten sein; der ganze Antikommunismus ist gegenstandslos. Der Priester, ein normaler Einverstandener, durchaus kein abseitiger Kritiker, erfreut sich einer christlichen Erfüllung: das ist die »neue Demokratie der Arbeiterschaft, als eines Bollwerkes der Sowjetfreiheit«. Das meint, anders gesagt: »Die Armut muß man kennen, um sie zu verstehn.« The very reverend Hewlett Johnson hat, wie manche Intellektuellen beim Beginn dieses Zeitalters, selbst die Probe gemacht, er hat körperlich gearbeitet mit den Mühseligen und ihre rauhe Art der Existenz auf sich genommen.
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