Seither kennt er das »gefährliche Leben«: es ist allein bei den Kämpfern um das tägliche Brot. Die Feinde der Arbeiter und Enteigner fremder Nationen haben das Wort nur geschändet. Für nichts und wieder nichts fallen, noch lieber andere in den Tod schicken, ist kein gefährliches Leben. Man drückt sich vielmehr von dem harten, aber normalen Leben.
Seither weiß er um Ziele, – die natürlich noch fern sind, aber es kommt darauf an, sie zu sehen. »Den Unterschied zwischen Hirn- und Handarbeit aufheben, dadurch daß Arbeiter so viel lernen wie Ingenieure«, ist real und erreichbar. – »Das junge Volk kontrolliert die Faktoreien, Werkstätten und wissenschaftlichen Arbeiten« wird geistig vorausgesetzt, nicht deutlich angeschaut. Seinesgleichen, gesättigt mit Wirklichkeit, hängt doch immer an Träumen. Ein weiser Skeptiker, der er zum Glück nicht ist, hätte aber niemals den endgültigen Satz gefunden, – aus Traum und Erfahrung formt sich die lautere Wahrheit:
»Ein Land, wo es arme Leute gibt, ist nicht frei.«
Der very reverend betet die Freiheit an, wie seinen Gott selbst. Er gibt wahrhaftig keinem Liberalen nach, sein Dafürhalten wird eher sein, daß sie von Freiheit nur dahinreden und getünchte Gräber sind. Er läßt nichts ab und die sozialen Bürgschaften sind ihm heilig, um so mehr, da sein Land unter den Ländern mit kapitalistischer Klassenherrschaft das letzte ist, wo sie noch eingehalten werden. »Den Arbeitern steht es frei, die Arbeit niederzulegen, obwohl der Hunger sie meistens zwingt, doch wieder zu arbeiten.«
Stolz trotz allem. Engländer geblieben, ungeachtet des glänzendsten Vorbildes dort draußen. Will auch die Pressefreiheit. Unter den gewohnten Umständen ist sie die schroffe Umkehrung der Freiheit: das wird nicht hindern, sie eines Tages richtig zu wenden.
Ein Volk, das lernt und liest, wird keine betrügerische Publizistik der überreichen Interessen mehr haben. Die Interessenten sind weg, und was sie zu sagen hatten, verfiele dem Gelächter. Die Sowjetunion mit ihrer Unzahl von Büchern und den Konsumenten der Bücher nimmt die europäische Zukunft voraus, sie ist schon unsere Nachwelt. Unter den meistgelesenen der heutigen Autoren nennt der britische Priester auch mich: ich bin ihm innig dankbar. Es ist Tatsache: ob ich wollte oder nicht, solange Europa – »Deutsch-Europa« – mir verschlossen bleibt, habe ich ein einziges Feld: Sowjetrußland.
Ich habe es mit Romanen, in denen das Wort Kommunismus weder vorkommt noch dem damals bekannten Sprachgebrauch angehörte. Der Kommunismus, wie seine Heimat ihn versteht, ist mehr als nur ein politisches Bekenntnis. Die Bücher, die ihm Genüge tun, zeugen von einer Anschauung des Menschen, seiner Lage, seiner Bestimmung, die erstens wahr ist, zweitens unsere Würde hebt. Das ist alles. Mehr muß man nicht haben oder tun, um – gegenwärtig allein in Sowjetrußland – populär zu sein.
Die Kommunisten regieren das Reich nur so lange, bis, nach der Definition Lenins, jede Köchin das Regieren erlernt hat. Was Lenin definiert und der englische Priester sich zu eigen macht, ist die moralische Reife: das Erwachen eines Volkes bis zur sittlichen Männlichkeit, die innere – und praktisch experimentierte Zuversicht, daß sie erreichbar sei.
Statt Kommunismus sage man Moralität. Der Kommunismus als Technik der Einrichtungen wäre kein Gegenstand der erregten Neugier. Seine sittlichen Hintergründe sind es. Umgekehrt ist jeder Antikommunist an der Moral durchaus unbeteiligt. Dasselbe gilt für den Antichristen, Antiintellektuellen, es trifft viele Antifaschisten, die nichts weiter sind. Gegen dies und jenes gerichtet – wird man nichts wesentlich anderes als die Widersacher. Was man gerade ablehnen soll, bedingen die Umstände, es ist auswechselbar. Standhaft erhält die Moral. Nur sie macht fruchtbar.
Der Dean of Canterbury hat über den Diktator Stalin das Gute und Rechte gesagt: er ist kein Diktator. Er wäre es, wenn er, gleich den faschistischen Machthabern, die Diktatur für ein Ende, ja, für das Immerwährende hielte. »Sein persönliches Verdienst ist die nationale Freiheit, sie ist seiner größten Werke eines.« Der Brite meint: Freiheit einer Nation ohne arme Leute. Er meint: Freiheit einer Nation mit hohem sittlichen Anspruch.
Ich bin ihm einmal begegnet, oder weiß nur von dem einen Mal, da unsere frühesten Erlebnisse die späteren überschatten: damals gingen wir in so viel Sonne – und bedauern sie nicht weiter. »J'ai vu tant de soleil«, sagte Stendhal, als er des schönen Italien müde war.
Mein Bruder zählte erst zwanzig Lenze, ich ein paar mehr, man schrieb 1895; da sahen wir über Piazza di Spagna in Rom einen Herrn kommen. Es war ein Herr, neben ihm wurde jeder Beliebige weniger als das. Hierüber verständigten wir uns sogleich; wir hatten den wahrhaft herrschaftlichen Typ erblickt. Unverkennbar war er ein Brite.
Im heimischen Deutschland war uns seinesgleichen nicht vorgekommen, existierte übrigens nicht. Um dieselbe Zeit, dies habe ich nie vergessen, trugen ein deutscher Gelehrter und meine Wenigkeit unsere Namen in das Fremdenbuch des Gasthauses von Tivoli ein. Unseren Beruf gaben wir mit »Globe trotters« an. Tags darauf fanden wir gleich darunter geschrieben: »Graf und Gräfin Sowieso, globe riders.« Sie betonen ihren Vorrang, weil sie nicht immer auf ihren Füßen tippelten, sondern zu Hause ihre Ackergäule ritten. Trotzdem hatte der Mann einen Bauch, die Frau keine Figur.
Unnütz, den Herrn zu beschreiben. Hakennasen, aufgeschossene Gestalten ohne Fett kann man haben. Niemand, außer unserem Lord, der auch ein Kaufmann aus Birmingham sein durfte, besaß in Haltung, Gang und Mienen diese einfache Selbstgewißheit. Ungewollt ist sie da; ein Eigenlob wie »globe riders« widerspräche ihr. So frei von Neugier war nur das eine Gesicht: es verglich nicht. Es ließ das andere – das andere sein. Sich an Menschen und Dingen messen, lag keineswegs im Sinn des Herrn.
Das alte römische Weltreich, über dessen Mittelpunkt er zur selben Stunde schritt, war aus seinen Gedanken abwesend. Nicht, daß er es verachtet hätte; Verachtung ist eine Abart von Interesse. Ihn ging es nichts an. Die selbstverständliche Tatsache des britischen Imperiums deckte alles Gewesene zu. (In Wahrheit ist es kleiner als das römische, die ganze bekannte Welt nimmt es nicht ein. Die Pax Romana hat zweihundert Jahre nach dem praktischen Ende Roms noch immer vorgehalten. Die Pax Britannica ist schon jetzt in hohem Grade der Revision bedürftig.)
Das alte Weltreich, wenn er es dem seinen angenähert hätte, führte allerdings, einmal etabliert, dieselben Kriege mit kleinem Aufgebot: Kolonialkriege, die seinen Mittelpunkt nie berührten. Sein Prestige behauptete es weniger mit angewendeter Gewalt, als durch die kluge Suggestion, sie sei zum Gebrauch bereit.
Der Herr, kann ich mich entsinnen, lächelte. Es war Ironie, oder weniger als das: eine Viertelsironie, die keinen bewußten Hochmut wiedergab. Nur ein Zustand und ein Sachverhalt verzog den Mund. So bewegte sich, ohne Aufsehen zu suchen, unter dem Gewühl der mittleren Zeitgenossen, an einer mehr oder weniger schätzbaren Örtlichkeit – der Herr.
Es ist schon lange her, das freut uns um so mehr, wurde in einer vergessenen Oper gesungen. Zuletzt frommt es nicht, von den Taten seiner Ahnen die ewig stabilen Einnahmen zu haben. Das viktorianische Antlitz über Gebühr festzuhalten ist für niemand gut. Mächtig und nahezu unbestritten, da hinkt etwas. Ein Herr, aber leidenschaftslos, aber korrekt, setzt die Natur ins Unrecht.
Die Briten dieses Krieges und Zeitalters sind unermeßlich größer als ihre nächsten Vorgänger, – die nicht übermütig geworden waren. Gearbeitet haben sie wie jeder, die viel berufenen Rohstoffe bekamen auch sie nicht umsonst. Ihr Ruhm, soviel ist richtig, war ein Nachleuchten.
Читать дальше