Heinrich Mann
Ein Zeitalter wird besichtig
Saga
Ein Zeitalter wird besichtig
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ISBN: 9788726885743
1. E-Book-Ausgabe
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Das Lebensgefühl
Die wenigen Jahrhunderte, die noch nahe genug liegen, daß sie mich nicht befremden, haben offenbar das Leben auf ungleiche Art empfunden. Da sind aufbegehrende Zeitalter, und da sind die zurückgefallenen. Einmal wird ein Glaube revidiert, er drückt nicht die Gemüter, er erhellt sie. Renaissance und Reformation haben, bei stark abweichendem Inhalt, beide das Lebensgefühl verstärkt.
Aber Jesuitismus und Barock setzen es nachher nicht herab; mit anderen Mitteln haben sie es nochmals angespannt. Der Pessimismus wird produktiv: die Tragiker und die Moralisten bezeichnen ein großes französisches Jahrhundert. Das vorhergegangene war ebensowohl italienisch wie deutsch gewesen. Mir bedeutet es viel, daß der Vorrang Frankreichs anhebt in demselben Augenblick, da das Lebensgefühl streng – streng bis zur Ausschweifung wird.
Etwas Äußerstes, von den Erfindungen des Gefühls die gewagteste, war die Majestät. Ludwig der Vierzehnte hatte sie dargestellt, mit innerem Vorbehalt, die Herzen waren es, die sie forderten und ihm grenzenlos zutrugen. Er ist einige Male vor sich erschrocken, hat sich bedacht und sich zurückgenommen.
Achtzig Jahre nach ihm erfuhr die Majestät ein gewaltsames Ende, aber genau so vielversprechend wie vormals sie, trat nunmehr der Zauber der Freiheit ein. Wieder einmal will das Leben sich fühlen und wird spektakulär – mit einer Revolution, die, außer in der Schwärmerei ihres Morgenrots, von niemand als endgültig genommen wurde und für integral gehalten nur von einigen Fremden.
Ihr Sinn ist eigentlich vollendet bei Voltaire, der an ihr wirkliches Erscheinen nie geglaubt hätte. Die Freiheit, will sagen die Unabhängigkeit der Person, geht bei ihm weit, sie kommt der Souveränität gleich; die Fürsten empfanden diesen Geist als die absolute Macht, die sie hätten sein wollen. (Sein eigener König ließ sich nicht verblüffen.) Er folgte aber auf den anderen äußersten Typ, Pascal, den Anbeter der Allmacht, der, vor ihr hingekniet, verzückt, gebückt, sobald er spricht, nur immer bezeugen muß, ihr Thron sei leer. Voltaire, ein Erschütterer alles Weltlichen, tastet Gott nicht an.
So haben Menschen die Autorität ausgeübt, wenn sie ihren Mißbrauch denunzierten, und dem Zweifel arbeiten sie zu, gerade mit ihrem Zuviel an Gläubigkeit. Weltanschauung, was auf deutsch diesen Namen trägt, hat einen doppelten Boden. Nicht mißzuverstehn, notgedrungen ehrlich ist das Lebensgefühl.
Wäre es schmerzlich bis nahe der Selbstvernichtung, das Leben stark fühlen ist alles. Es ergibt die Werke und die Taten. Es bannt das menschliche Gefolge. Der junge Werther beendet seine Leiden freiwillig: die Mitlebenden wurden überzeugt. Sie haben der Nachwelt, als Andenken eines nach außen leichten Jahrhunderts, des achtzehnten, gerade Werther und Manon überliefert. Beide beschwert ihre unstillbare Begierde zu leben, nichts stillt sie, nur der frühe Tod.
Unzählig sind die Werke des Lebensgefühls, die nichts als das sind. Seine Taten ergriffen manchen, der kaum vorbereitet schien. Klopstock und Kant, in ihrer Begierde für die Ereignisse in Frankreich, detonieren. Mozart wird seither so tragisch bedeutungsvoll nicht empfunden, wie er es ein einziges Mal sein wollte. Dennoch, in der »Zauberflöte« vernahmen die Zeitgenossen ein noch unerhörtes Gefühl, sie gaben sich hin und erklärten es nicht. Es war 1791 der Schwanengesang ihres Herzens und seines, bald vollendeten. Die strengen, dunklen Klänge hat er, hellhörig, in sanfter Ahnung der heraufziehenden Leidenschaften, aus Frankreich empfangen.
Ein Weltgeschehen, kaum begriffen, die Gesinnung teilt man nicht, unwiderstehlich ist allein das entfesselte Lebensgefühl, – es begleitet jedes Verhängnis.
Es rechnet mit den Kräften nicht, in dreißig Jahren hat es sie noch immer erschöpft, dann bekennt die nächste Zeitgenossenschaft, daß sie von der Maßlosigkeit ihrer Vorgänger verbraucht ist.
Die Generation nach Napoleon hat ihm im Grunde nur vorgeworfen, daß sie müde sei. Ihr Gefühl belasteten die Toten aus seinen Kriegen. Er verantwortete die Überanstrengung der Nation und die interessanten Ängste der Nachgewachsenen. Stendhal hat sich in Julien Sorel um zwanzig Jahre jünger gemacht, damit ein Anhänger des Kaisers in der müden Welt, die jetzt folgt und die empfänglich für starke Naturen ist, ein Heuchler und ein Mörder werden soll. Julien ist die dunkle Kehrseite der glänzenden Jugendjahre mit dem großen Mann, die seinem Autor erlaubt gewesen waren. Beide hätten ein und dasselbe Lebensgefühl, lägen nicht zwischen ihnen die zwanzig Jahre.
Wieder um eine Generation jünger, erhebt Michelet seine Anklage. Hier bejammert kein Geschädigter mehr sich selbst. Die historischen Nachwirkungen eines Eroberers, der nicht für Frankreich gehandelt habe, erbitterten ihn allein. Napoleon hatte Frankreich entvölkert, das Sterben mißbraucht für Siege ohne nächsten Tag. Was anhält: die Entvölkerung.
Noch mehr, die Revolution, als die wahre, moralische Eroberung, ist abgestumpft worden auf den müßigen Schlachtfeldern. Der überdimensionale Dichter der Revolution, Jules Michelet, hatte damals seine Vision vom leuchtenden und erlöschenden Genie eines Zeitalters beendet. Er war jetzt alt, ohne Geduld; für Napoleon, der dennoch die letzte Fackel der Revolution über Europa getragen hat, findet sein Geschichtsschreiber nur noch zerhackte Beschimpfungen.
Ich vergleiche mit dem Menschentum außerhalb jeden Ranges, das Napoleon, seine Epopöe, seine Erscheinung, einer ganzen Welt zu fühlen gegeben hatte, als er auf ihr wandelte. Nationen verachteten auf einmal jede Macht, die nicht seine ist. Noch wenn sie kriegerisch werden und sich befreien von ihm, vermögen sie nur Frankreich und ihn viel kleiner nachzuahmen. Er ist der einzige Herrscher und General, den die geistigen Spitzen Europas für ihresgleichen gehalten haben. Goethe war sein Freund.
Aber kaum ist seit dem Tode Goethes ein Menschenalter verstrichen, da wird das Monstrum an Machtwillen verworfen ohne Appell. Das Urteil fällt der nationale Geschichtsschreiber Frankreichs: durch seinen Mund die Nation selbst, sie liest ihn seither hundert Jahre. Sie fährt gewiß fort, den einstigen Herrn Europas zu bewundern, da er es mit französischen Heeren wurde. Gleichwohl erkennt sie seit einigem in allen militärischen Eroberungen den Trug und die Vergeblichkeit. Es könnte sein, daß die einmalige, ausgiebige Erfahrung nie verwunden, aber genutzt wäre. Daher mehr als ein Phänomen, das für französisch gilt, aber sich zögernd herangebildet hat seit 1815.
Der einzelne lebt kurz, vollendete Verwandlung erblickt er selten, eher wird er zuletzt noch Zeuge eines Rückfalles der Nation in längst widerlegte Zustände. Als Michelet alterte, mußte er das zweite Kaiserreich über sich ergehen lassen: gerade daher seine uneingeschränkte Verwerfung des ersten. Die militärischen Eroberer haben nicht genug daran, daß sie das Land entvölkern, die Nation ermüden: sie hinterlassen eine Wurzel, die noch treibt. Sie werden nachgeahmt.
Napoleon III. war ein zaghafter Nachahmer des Ersten. Er begehrte seinen Glanz und nicht erst die Mühen. Er hat die Kriege, zu denen seine Herkunft ihn verpflichtete, mit Vorsicht geführt: der letzte, über den er stürzte, mußte ihm abgenötigt werden, ebensowohl von seiner Umgebung wie von dem Angreifer.
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