Die Sowjetunion
Anders als die Deutschen ist Rußland niemals versucht gewesen, eine europäische Welteroberung zu unternehmen. Die russischen Heere sind einst, so gut wie die deutschen, in Paris eingezogen. Ihre Fürsten oder Fabrikanten haben daraus nicht den Schluß gezogen, daß sie mehrmals wiederkommen, endlich aber sich für die Dauer festsetzen müßten.
Wenn Berlin den Russen näher liegt, nun wohl, im Verlauf der Auseinandersetzungen Katharinas mit Friedrich dem Großen standen sie zweimal in Berlin. Sie erhoben Lösegelder, die ihre Kosten nicht deckten, und gingen ihrer Wege. Den Besuch zu wiederholen, haben sie in 200 Jahren sich nicht veranlaßt gesehen. Sollte diese Enthaltsamkeit heute nachgelassen haben, muß viel geschehen sein.
Die Fähigkeit, den Krieg in fremde Länder zu tragen, wäre somit gegeben. Die Sitten und Gebräuche des Westens, hat man ihn glücklich erreicht, sind erlernbar, noch eher die Sprachen. In Koblenz, kann ich mich erinnern, stand am Ufer des Rheins ein stattliches Denkmal, der französische Sieger aus den Tagen Napoleons hatte darauf verzeichnet, wie stolz und glücklich er sei, sich dort zu befinden. Der nächste Sieger, ein Russe, setzte darunter: Vu et approuvé.
Die russischen Soldaten scheinen sich in dem Deutschland der letzten napoleonischen Zeiten eher beliebt als verhaßt gemacht zu haben. Allerdings sprachen gegen sie nicht dieselben Vorurteile wie gegen die Franzosen – sondern andere. Große Massen einer fremden Nation, besonders wenn sie bewaffnet sind, können den Einheimischen nie ganz gefallen. Aber General Suwarow wurde bewundert – das »Schatzkästlein« des Volkserzählers Hebel zeigt es an –, weil er ein auffallendes Original und von geringer Herkunft war: beides Eigenschaften, die in der preußischen Armee nichts galten.
Verbündete müssen nicht beliebt sein, sie sind fast immer das Gegenteil. Nicht jeder Verbündete bringt es dahin, daß eine Nation, der er helfen sollte, ihn mehr verabscheut als den amtlichen Feind. Das ist, seit diesem Krieg, der Fall der Deutschen in Italien. Ich sehe noch keinen italienischen Erzähler der Nachkriegszeit einen deutschen Heerführer mit liebenswerten Zügen schmücken.
Es ist heute so und wird auch früher wahr gewesen sein: die slawischen Völker haben von ihrer ursprünglichen Menschlichkeit vieles bewahrt. Sie sind unmittelbarer als andere, in der Güte, in der Reue, im Zorn. Sie nehmen die Seele, wenn ich recht verstehe, für den besten Teil der Wirklichkeit. Was mit Leidenschaft gefühlt und gedacht ist, findet sie zur Aufmerksamkeit, ja zur Nachfolge bereit.
Die russische Oktoberrevolution läßt neben allen ihren notwendigen Voraussetzungen gewiß eine besondere zu. Die konsequentesten Denker besaßen den Willen ihrer Überzeugung nicht nur selbst; sie begegneten bei einem Hauptteil des Volkes ihrer eigenen Aufrichtigkeit und Unbedingtheit. Das allein ermöglicht die geraden Taten und ihre Dauer.
Es scheint mir erlaubt, vom Geringen auf das Große zu schließen, und meine eigene unbedeutende Erfahrung anzunähern dem öffentlichen Geschehen. Nicht in Moskau, aber in Prag fuhr ich, früher einmal, auf einer voll besetzten Straßenbahn und mußte stehen. Nicht lange, ein Mann mit den Kennzeichen eines Kleinbürgers winkte mir, seinen Sitz einzunehmen. Ich wollte es nicht glauben. Ich war im besten Alter, sah auch nicht krank aus. »Bietet er mir wirklich seinen Platz an? Warum?« fragte ich meine einheimische Begleitung. Antwort: »Weil er dich für einen Intellektuellen hält.«
Denn ihr Präsident – Befreier Masaryk, ein Professor und Schriftsteller – hatte mit tapferen und erfolgreichen Handlungen den nationalen Glauben an die Macht des Denkenden bestärkt, wenn er ihn nicht geschaffen hatte. Das war auch die volkstümliche Wirkung Lenins. Es ist übrigens die einzige, jetzt erlaubte Wirkung auf die Völker. Der Staatsmann Churchill hat seine Wurzel in dem Schriftsteller Churchill. Roosevelt ist der vergeistigtste Typ, den Amerika kennt, und eben dank seinem Wissen um das neue Zeitalter, das er tätig einleitet, wird er im Gedächtnis der Vereinigten Staaten der außerordentliche Präsident bleiben.
Als größter Realist unter den öffentlichen Männern hat Stalin sich der widerstrebenden Mitwelt herausgestellt. Gerade er verzichtet am wenigsten auf den Rang eines Intellektuellen. Eher noch ließe er seinen Marschallstitel fallen. Der einzige jetzt authentische Realismus deckt sich mit dem Ausbruch von Wahrheitsliebe, der dieses Zeitalter bewegt.
Die beiden Revolutionen sind eine
Vorerst hat der Ausbruch von Wahrheitsliebe 200 Millionen Menschen durchaus verändert, er hat sie befähigt für Siege, die nicht zuerst militärisch waren. Die Sowjetunion kann den Krieg gewinnen, weil sie vorher so viel Wahrheit besaß. Nicht ohnmächtige Wahrheit, sondern lebendige – das wirkliche Leben eingerichtet nach bester Erkenntnis, mit dem besten Willen für die Menschen.
Das Phänomen der ausbrechenden Wahrheitsliebe wiederholt sich an jeder größten Zeitwende. Die Französische Revolution war ursprünglich der russischen wesensgleich. Nicht ganz früh erklärte sich, daß nur eine andere Klasse, statt der vorigen, zur Macht kam. Gewiß war es unmöglich, vor allen seither gemachten Erfahrungen zu wissen, was Freiheit heißt, solange es Besitzende und andere gibt. Übrigens besaß noch niemand die nationalen Grundwerte, außer dem Land, und das wurde aufgeteilt.
Der Abstand der Französischen Revolution von der russischen ist allein zeitlich bedingt, niemals durch die verschieden bemessene Wahrheitsliebe, durch anders verstandene Menschenpflicht. Menschenpflicht und Wahrheitsliebe sind dasselbe, und es gibt sie nur in einerlei Gestalt.
Die Französische Revolution hatte die Menschenrechte statuiert. Sie wirklich zu besitzen blieb jedem einzelnen überlassen. Der Ruhm des Jahres 1789 ist die Befreiung der menschlichen Persönlichkeit. Sie darf endlich so groß sein wie sie ist, so mächtig wie sie werden kann. Der Auszeichnung – und dem Abstand, sind keine Schranken gesetzt. Es ist erlaubt, unsterblich oder wenigstens reich, bald wird es erlaubt sein, Kaiser zu werden.
Die Gleichheit bleibt unter diesen Umständen eine gedachte Voraussetzung. Beim Absprung ins Leben seien alle gleich. Aber setze dich durch, wenn du in Wirklichkeit benachteiligt, wenn du arm geboren, in Unwissenheit gelassen und womöglich von dunkler Hautfarbe bist! Schon die Verpflichtung auf eine einzige Sprache, die jeder mitbekommen haben muß, um sie in der Art aller zu gebrauchen, macht manche zu Unterlegenen.
Eine neue Revolution wird sich sozialistisch nennen, weil sie vor allem, oberhalb jeder praktischen Einzelheit, auf die menschliche Gleichheit gerichtet ist. Unentschieden bleibt, ob Natur die Gleichheit begünstigt. Die Gesellschaft könnte sie schließlich verwirklichen. Sobald sie ihn braucht, stellt der gute Wille sich ein. Gefühlvoll wird er nicht zuerst sein. Was überwiegt nach langen Zeiten der sozialen Ungerechtigkeiten, ist der entschlossene Überdruß an ihnen insgesamt. Ihre Gesamtheit – ist die Ungleichheit. Oft von Natur bestimmt, noch öfter an den Zufall der Macht gebunden, die Ungleichheit ist nicht mehr erträglich, die Gesellschaft will sie begrenzen.
Als erste hebt der revolutionäre Staat die Ungleichheit der Arten auf. Die Sowjetunion begreift die kaukasische und andere Rassen ein: aber Unterschiede gelten nicht mehr. Die höchstentwickelten Arten – höchstentwickelt nur nach westlichem Maß – sind nicht beispielhaft von Amts wegen, geschweige bevorrechtet. Sechzehn Republiken, jede mit einer homogenen Bevölkerung, bekommen gleiches Gesetz, jede ihre angepaßte Verfassung. Sie behalten ihre Sprachen, die russische wird nur gelehrt, nicht übergeordnet.
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