1 ...7 8 9 11 12 13 ...24 Dagegen ist nicht wahrscheinlich, daß dort, wo nahezu die Gesamtheit von der Freiheit im heutigen Verstande schon überzeugt ist, eine Zurückführung in vorige Zustände irgend Erfolg verspricht. Für einige Augenblicke hat im Frankreich des 19. Jahrhunderts die Reaktion triumphiert. Die bürgerliche Freiheit hatte für sich den Glauben und die Gewohnheit, sie ist jedesmal wiedergekehrt.
Die Sowjetunion darf sich kein Zurück erlauben. Es wäre nicht, wie einst in Frankreich, die vorläufige Unterbrechung der Revolution, sondern ihr Ende. Die reprivatisierte Wirtschaft verstaatlicht man nicht noch einmal. Das kostet mehr, als wenn eine bürgerliche Presse bald geknebelt, bald freigegeben wird. Es wäre für das Land der sozialistischen Revolution der innere Krieg, ein höchst mörderischer Krieg, der nicht nur diesen, sondern jeden Staat zerstören müßte. Die Wirtschaft wäre inzwischen reprivatisiert, aber nicht zugunsten Einheimischer. Das Ende wäre eine Fremdherrschaft.
Es ist lächerlich, an dergleichen unsinnige Kombinationen auch nur einen Gedanken und wenige Schriftzüge zu wenden – in dieser Zeit der leidenschaftlichen Verteidigung der Sowjetunion. Sie verteidigt sich gut, weil sie ihre Völker überzeugt hatte von der Güte der sozialistischen Freiheit. Ihre Völker verteidigen sie mit völliger Hingabe, weil sie ihr Land frei wollen und die Sowjets gleichsetzen dem Land und seiner Freiheit. Hier kämpfen die Erfahrungen eines Vierteljahrhunderts.
(Die Deutschen verteidigen – oder verteidigten bis gegen das schlimme Ende hin – gar nichts. Niemand hatte sie und ihr Land bedroht. Sie selbst waren die Angreifer jedes anderen Landes, und waren es einzig und allein, weil ihr Führer »immer recht hat«. Die Niederlage gibt ihm sichtbar Unrecht, da bleibt nur übrig, in heller Verzweiflung weiterzukämpfen.)
Die Völker der Sowjetunion sind überzeugt, nicht daß ein Mann »immer recht hat«, sondern ihr Land, ihre Idee, seine Einrichtungen haben heilig recht: daher die unwahrscheinlichen Arbeiten, die Opfer von schauriger Phantastik, aber so einfach dargebracht. Auf hoher Ebene verteidigt sich nur das Volk, das seine Revolution verteidigt. Ein innerer Krieg muß gewonnen und überstanden sein, damit die Nation es mit ganzer Seele verdient, einen verhaßten Eindringling aus dem Land zu jagen. Auch der noch? Auf ihn!
Vor diesem neuen Einbruch eines Schädlings haben sie es, gleich zu Anfang ihrer Revolution, mit ihren ersten Feinden zu tun gehabt, aufständischen Generälen des alten Regimes, verbündet mit fremden Expeditionsarmeen. Alle Mächte Europas waren, wie einst die Heilige Allianz, willens, den Herd der Revolution auszuräumen, bevor es zu spät wäre. Das sind haltbare Erinnerungen, weniger für die Mächte, die das Unliebsame schnell vergessen, als für die Leute der Sowjetunion. Sie sprechen: »Alle Schrecken des heutigen Krieges beiseite, in der größeren Gefahr waren wir damals, an unserem noch ungefestigten Beginn.«
Sie sind fertiggeworden mit den frühesten Feinden, die aus Furcht vor einer Weltrevolution die Oktoberrevolution ungeschehen zu machen dachten. Hiernach allein war in jedem Augenblick vorauszusehen, daß der Staat der Arbeiter und Bauern von einem späteren, zu späten Angreifer nicht mehr zu fassen sein werde. Er konnte schon längst nicht mehr sie, sie mußten ihn überkommen – wie furchtbar er übrigens wäre an Gewalt und List.
Von ihrer Entschlossenheit hatten die Sowjets vor aller Augen das Maß gegeben, – als sie den Verräter Tuchatschewski hinrichteten. Es gehört für jeden Staat etwas dazu, einen militärischen Befehlshaber mit tatsächlicher Macht nach dem Gesetz über Spionage öffentlich zu exekutieren. Eine moralische Autorität oberhalb der materiellen muß ihrer selbst außerordentlich sicher sein. (Hitler hat Generäle, die er haßte, heimlich beseitigt. Einer erlag während des Massenmordes vom 30. Juni 1934 einem Unbekannten. Der Gefürchtetste fiel an der Front, als der Feind nicht schoß.)
Ein Sowjetmarschall, der verrät, kann nichts anderes sein als Handlanger der Fremden, die wie er die Sowjets stürzen wollen. Über die böse Lust des Verräters hinaus und jenseits der Absichten von 1920 will dieser Feind das Land nehmen, ja, die Nation von ihrem Boden verdrängen. An die Stelle der Sowjets würde er keinen anderen setzen als sich selbst. Jeden Angreifer, nur diesen nicht, hätte der Tod des Marschalls gewarnt.
Die Sympathien, deren die Sowjetunion sich außerhalb ihres Gebietes erfreut, gelten, so gut wie ohne Rest, einer Idee, der Idee der neu verstandenen Freiheit. Nur die noch immer Unbelehrten denken sich die Revolution des 20. Jahrhunderts schlechthin stofflich. Die Verstaatlichung der Produktionsmittel bleibt ihnen Selbstzweck, sie steht im sozialistischen Programm, hiermit ist es erfüllt.
Wenn das alles wäre, und hätte eine wirtschaftliche Maßnahme weder geistige Voraussetzungen noch sittliche Folgen, dann – bliebe sie noch immer belangreich. Aber nicht notwendig von günstigem Belang. Ein Staat kann seine wirtschaftliche Macht über die Menschen so sehr und mehr mißbrauchen, als die privaten Monopolinhaber. Warum nicht die wirtschaftliche, da die soziale, politische, militärische Macht der Staaten so vielfach schlecht verwendet worden ist!
Die Auswirkung von Reformen – eine Revolution sei nicht immer vorausgesetzt – hängt ganz und gar davon ab, in welcher Geistesverfassung sie vorgenommen werden, welche Geschichte eine Nation hat, unter was für Taten und Lehren sie bis zu diesem Augenblick lebte. Lasse man die Deutschen nach zwölf, vierzehn Jahren Hitler – mit den Denkgewohnheiten der Hitlerzeit, mit ihrer Art des Empfindens, des längst nicht mehr humanen Empfindens – urplötzlich durch einen Zauberschlag oder coup de théâtre den Kommunismus bekommen. Er hat ihnen, wie sie sind, nichts zu geben. Er kann von dem, was sie sind, nichts fortnehmen.
Der Wahn vom einzigen Herrenvolk ist ihnen, vielen Zeugnissen und der Wahrscheinlichkeit zufolge, gründlich genug beigebracht worden. Er hat die Führung in einer Reihe anderer böser Träume. Eine veränderte Wirtschaftsregelung bewirkt nicht von selbst die geistige Gesundung. Wenigstens wäre die Annahme noch willkürlicher, als die entgegengesetzte Vermutung, daß die deutschen Welteroberer, wirtschaftlich reformiert (und sich selbst überlassen) alsbald zu frischen Taten schreiten. Sie müssen es nicht – obwohl erst der Kommunismus ihrem Staat die völlig zentralisierte Gewalt gegeben hätte. Die Gelegenheit oder der Mut, eine neue Katastrophe auszubrüten, könnten dem kommunistischen Deutschland fehlen: Nicht die inneren Voraussetzungen.
Die Entscheidung, ob eine Nation im heutigen Zusammenhang der Welt sich einen, und geht er verloren, den zweiten Angriffskrieg erlaubt – beide irrational, beide verworfen und aussichtslos: die Entscheidung ist beschlossen in dem Maß ihrer Weisheit, und nirgends sonst.
Die Deutschen waren seit wenigstens fünfzig Jahren stufenweise verdummt. Sie verachteten, was man nicht sieht, was nicht technisch gehandhabt wird und Lärm macht. Sie waren ohne Stille, das ist es. Ihre ursprünglichen Gaben werden nunmehr allem anderen gewidmet, nur nicht der Meditation. Nur der uninteressierten Erkenntnis nicht. Um sich in Morallosigkeit tief hineinzuknien (»Moralinfrei« ist leider eine Wortbildung Nietzsches), haben sie keinen Hitler abgewartet.
Eine sozialistische Revolution konnte gelingen, ihr Ergebnis, die Sowjetunion, kann bestehen, weil beide geistig erkämpft worden sind. Aber geistige Kämpfe geschehen in der Stille, so viel gnadenloses Geräusch sie endlich aufrühren müssen. Hundert Jahre großer Literatur sind die russische Revolution, vor der Revolution.
Das alte Rußland konnte geistig bearbeitet werden zufolge seiner sozialen Schichtung, seiner altväterischen Gesittung – und ihrer grausamen Kehrseite: Das Dasein der Erniedrigten war mit der Hand zu greifen, und zu schildern. Günstig war auch die geistige Duldsamkeit eines Staates, der – wenn auch nur literarisch – mit sich reden ließ. Die »Gesellschaft« rang sie den Machthabern ab, sie kleidete ein erschlafftes System, Anfälle von Strenge unterbrachen das Geschehenlassen. Mit all dem war das alte Rußland genau der Boden, dessen eine große Literatur bedarf.
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