1 ...6 7 8 10 11 12 ...39 Im Modell von Antonovsky stehen die Reaktionen des Körpers auf Stressoren im Vordergrund, andere wichtige Faktoren wie Vertrauen, Liebe, Fantasie und Gemeinschaft spielen eher eine geringe Rolle. Neben dem Modell der Salutogenese hat sich u.a. auch das Resilienz-Modell etabliert, das die körperliche, v.a. aber psychische und seelische Widerstandsfähigkeit des Menschen bezeichnet, auf schwere Lebensereignisse – wie z.B. eine Krebserkrankung – zu reagieren und sich somit krankmachenden Prozessen entgegen zu stellen (Ludolph, Kunzler et al. 2019). Die Resilienzforschung sucht Faktoren, die dazu führen, dass der Mensch sich auf dem Gesundheit-Krankheitskontinuum eher auf der Seite der Gesundheit befindet.
Das salutogenetische Modell führt zu einem dringlich notwendigen Paradigmenwechsel in der Medizin bzw. Gesundheitswissenschaften. Der die konventionelle Medizin aktuell noch primär tragende pathogenetische Ansatz wird fruchtbar ergänzt durch den salutogenetischen Ansatz, der insbesondere dem präventivmedizinischen und dem naturheilkundlichen bzw. ressourcenorientierten Denken entspricht und an zentraler Stelle das Selbsthilfe- und Selbstheilungspotenzial des Patienten adressiert (Esch 2018).
1.3 Konzepte der Naturheilkunde und anderer traditioneller Medizinsysteme
Die Naturheilkunde (NHK) und traditionelle Medizinsysteme basieren mitunter auf durchaus unterschiedlichen Konzepten von Gesundheit und Krankheit, die zum Teil, wie etwa bei der Chinesischen Medizin (CM– Anmerkung: Da es keine kontinuierliche und einheitliche „traditionelle“ Chinesische Medizin gibt, wird in diesem Buch dieser Begriff verwendet), auf naturphilosophischen Ansätzen basieren, zum Teil solche Ansätze verlassen und sich naturwissenschaftlichen Gesetzen unterordnen. Die NHK als primär regulationsmedizinischer Ansatz basiert beispielsweise vor allem auf der Selbstregulation bzw. der Adaptation des Körpers an Umwelteinflüsse und den gestaltenden Kräften zur Bewahrung oder Verbesserung der Gesundheit. Trotz dieser wichtigen Unterschiede haben die beschriebenen Medizinsysteme neben der kulturellen Verankerung aber auch viele Gemeinsamkeiten: Bei vielen dieser Systeme herrscht die Idee der „Homöostase“vor, was den Gleichgewichtszustand eines offenen biologischen Systems beschreibt – als grundlegendes Prinzip des Lebens. Genauer sprechen wir heute auch von der „Allostase“, was präziser zum Ausdruck bringt, dass die angestrebte gesunde Balance niemals stabil, sondern immer dynamisch ist (Esch 2002).
Für den Begriff der Integrativen Medizin jedoch mindestens so bedeutsam ist die in vielen traditionellen Medizinsystemen enthaltene Aufforderung zur aktiven individuellen Beeinflussung der Gesundheitunter anderem durch Einleitung oder Begleitung günstiger Veränderungen des Lebensstils, sowohl im Sinne einer Gesundheitsförderung als auch im Sinne präventiver Maßnahmen. In der Naturheilkunde wurde hierfür zentral der Begriff der „ Ordnungstherapie“konzipiert, eine Bezeichnung für die Anregungen und Hilfen zu einem geordneten Leben und Lebensstil aus den Erfahrungen der klassischen Naturheilverfahren (Pschyrembel 1999); im Engl. wird hier der Begriff der „Lifestyle Medicine“ oder immer häufiger der Begriff der „Mind Body Medicine“eingesetzt (Dobos, Altner et al. 2006). In der Naturheilkunde und in der traditionellen Medizin spielen darüber hinaus die Selbstmedikation, z.B. die Einnahme von Hausmittelnoder die in Inanspruchnahme von natürlichen Ressourcenzur Unterstützung der Gesundheit, eine zentrale Rolle. Therapeutisch setzt die Naturheilkunde, so wie die meisten traditionellen Heilsysteme, auf multimodale Ansätze, d.h. dem Kombinieren unterschiedlicher therapeutischer und präventiver Verfahren, um die Gesundheit zu fördern bzw. Krankheiten zu therapieren. Bei vielen traditionellen Medizinsystemen kommt neben der Ordnungstherapie (Lifestyle Medicine, Mind-Body-Medizin – s.o.) der Ernährungs-, Bewegungs- und Entspannungstherapie eine besondere Bedeutung zu, die nicht selten durch den unterstützenden Einsatz von einer oder mehrerer Heilpflanzen ergänzt wird. Weitere Therapieverfahren von traditionellen Medizinsystemen – wie z.B. die Hydrotherapie in der NHK oder die Akupunktur in der CM – stellen oftmals Alleinstellungsmerkmale dar. Zentraler Bestandteil nahezu aller traditionellen Therapiesysteme ist jedoch die Aufforderung, ein gesundes Leben zu führen und krankmachende Faktoren zu meiden. Insofern passt die Naturheilkunde (etwa am Beispiel der Ordnungstherapie sehr konkret, aber auch paradigmatisch insgesamt) ideal in das (neue) Paradigma einer modernen Integrativen Medizin.
1.4 Integrative Medizin – Ansätze zu Definitionen
Der Begriff „Integrative Medizin“ wird im anglo-amerikanischen Sprachraum bereits in den späten 1940er-Jahren verwendet (s. Kap. II.1) und wird ab dem Jahr 1990 zunehmend häufig auch im deutschen Sprachraum verwandt. Dennoch ist der Begriff auch heute noch vielen Ärzten und auch Patienten nicht oder nur unzureichend bekannt.
Eine frühe Definition stammt vom ehemaligen National Center for Complementary and Alternative Medicine (NCCAM), dem heutigen National Center for Complementary and Integrative Health (NCCIH) (s. Tab. 1).
Tab. 1 Wichtige Definitionen von Integrativer Medizin (und Gesundheit)
Author/Institution |
Year |
Definition of Integrative Medicine (and Health) |
National Center of Complementary and Alternative Medicine at the National Institute of Health |
um 2000 |
Integrative medicine combines mainstream medical therapies and CAM therapies for which there is some high-quality scientific evidence of safety and effectiveness. |
Jonas WB and Chez RA |
2004 |
Integrative medicine has been defined as the coordinated application of a variety of healing, prevention, and treatment modalities in therapeutic settings. These modalities include those from conventional medicine, complementary and alternative medicine, and traditional and culture-specific practices. |
Consortium of Academic Health Centres for Integrative Medicine |
2005 |
Integrative Medicine is the practice of medicine that reaffirms the importance of the relationship between practitioner and patient, focuses on the whole medicine, is informed by evidence, and makes use of all appropriate therapeutic approaches, healthcare professionals and disciplines to achieve optimal health and healing. |
Consortium of Academic Health Centres for Integrative Medicine |
2015 |
Integrative Medicine and health reaffirms the importance of the relationship between practitioner and patient, focuses on the whole person, is informed by evidence, and makes use of all appropriate therapeutic and lifestyle approaches, healthcare professionals and disciplines to achieve optimal health and healing. |
Brinkhaus B and Esch T, adapted version of the US consortium IM |
2020 |
Integrative Medicine and Health reaffirms the importance of the relationship between practitioner and patient, focuses on the whole person, is informed by evidence, and makes use of all appropriate therapeutic, preventive, health-promoting, and lifestyle approaches, healthcare professionals and disciplines to achieve optimal health and healing, emphasizing the art and science of healing. It is based on a social and democratic as well as natural and healthy environment. |
Abb. 2 Integrative Medizin (Willich 2009)
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