Wie einst Jürg Marmet und Ernst Schmied
Später, während der langen, eintönigen Tage auf dem Fahrrad, begannen Zweifel zu nagen. Warum hatte ich mich in diese Idee mit dem Fahrrad verbissen? In flachem Gelände fahren ist nicht mein Ding. Es zieht mich bergauf. Mit Händen und Füßen. Am liebsten senkrecht nach oben. Warum musste ich jetzt, da mein Ziel der Südpol war, so beschwerlich in Zeitlupe anreisen? War die Antarktis nicht genug? Aber ich hatte meine Gründe, mich bis Punta Arenas auf dem Sattel zu halten.
Zum Projekt gehörte von Anfang an, das Ziel aus eigenen Kräften zu erreichen. Doch die Frage blieb berechtigt. Sie stellte sich mit äußerster Dringlichkeit. Wozu dieser Auftakt, der so viel Zeit und Kraft erforderte? Mutete ich mir damit nicht Unnötiges zu? Doch jetzt, da der Erfolg auf meiner Seite ist, hat sich meine Bergsteigererfahrung bestätigt: Zu hohen Zielen gibt es keine Abkürzung. Kommst du weiter – persönlich weiter, meine ich –, wenn du hier auf dem Airport in die Maschine steigst und einen O-Saft später am anderen Ende der Welt auf den Boden kommst? Erfahrung kommt mit der Zeit und mit dem Weg. Ein Sturz vom Fahrrad gleich zu Beginn der Reise belegte das deutlich genug.
Ja, diese Welterfahrung durch ein Erfahren der Welt gehörte dazu. Vielleicht muss ich etwas weiter ausholen. Ich war noch nicht geboren, als Edmund Hillary und Sherpa Tenzing Norgay 1953 als Erste auf dem Mount Everest standen. Auch noch nicht, als die beiden Berner Jürg Marmet und Ernst Schmied drei Jahre später die Zweitbesteigung schafften. Aber die beiden sollte ich viele Jahre später persönlich kennen lernen.
2001, genau fünfundvierzig Jahre nach ihnen, stand auch ich auf dem höchsten Berg dieser Erde. Das hat sich herumgesprochen hierzulande: »Die Evelyne war auf dem Everest.« Für mich stimmt das aber nur halb. Mein Ziel war der Sagarmatha, »die Stirn des Himmels«, wie die Nepali sagen; oder wie es in Tibet heißt: die Chomolungma, die Muttergöttin der Erde. Das macht einen Unterschied. Der Everest ist wie ein anderer Berg, der äußerlich identisch an der gleichen Stelle steht – und entsprechend den Weltmachtverhältnissen im zwanzigsten Jahrhundert hat sich der westliche Namen durchgesetzt …
Der Everest hat seinen Namen vom britischen Geometer George Everest. Dieser hat im vorletzten Jahrhundert von Indien aus seine Lage vermessen. »Iivrist« soll er seinen Namen ausgesprochen haben. Die Lautverschiebung zum »Everest« machte aus dem Berg nach englisch »ever« »den Ewigsten« daraus. Ein Superlativ mit Salto mortale ins Absurde, bei dessen Besteigung sich messbare Rekorde verwirklichen lassen.
Mir ging es mehr um Erfahrung als um Leistung. Doch hatte auch ich mich von der Gipfelstürmerei anstecken lassen. Auch ich war angereist im Spitzensportlerstil zu einem Spitzensportlerspiel, als wäre das Basislager ein Wettkampfplatz. Auch ich brachte mein Gipfelbild als Beweis und Trophäe nach Hause. So erreichte ich denn mit einem Fuß die Chomolungma und mit dem andern nur den Everest. Ehrgeiz nach äußerem Erfolg beeinträchtigte meine Offenheit für die Erfahrung und Erkenntnis der Muttergöttin und der Stirn des Himmels. Das wurde mir erst allmählich bewusst. Die Offenheit für das Mystische in der Natur sollte in Zukunft mehr Bedeutung erlangen: etwas, das Tibetern und Nepalis vertraut ist, als Erfahrung eines inneren und eines äußeren Raumes.
Mir wurde klar, Schmied und Marmet waren dieser Erfahrung näher gewesen. Sie hatten etwas erlebt, von dem sie fast mehr zu erzählen wussten als von den Augenblicken »jenseits der belebten Welt«. Noch vor dem Jet-Zeitalter waren die beiden mit ihren Koffern und Säcken im Bahnhof Bern in die Eisenbahn gestiegen. Sie reisten auf dem Landweg nach Osten. Wie vor ihnen Marco Polo, Phileas Fogg oder auch die beiden Schweizerinnen Annemarie Schwarzenbach und Ella Maillart. Durch Felder und Wälder, Wüsten und Steppen, durch Länder, in denen damals die Sitten und Gebräuche noch verschiedener waren als heute. Sie erlebten Distanz. Eine Reise mit einem Anfang und einem Schluss. Wie Marmet und Schmied ihre Koffer und Säcke über die alte Seidenstraße aufs Dach der Welt hinaufschleppten, das erst gab ihrem Everest-Abenteuer den soliden Boden, auf dem sich Größe auszeichnet.
Der große Luftsprung direkt an den Startplatz im Süden Chiles kam für mich einfach nicht mehr in Frage. Da war die große Neugier: Was liegt zwischen Innertkirchen und dem Eis im tiefen Süden? Die physische und psychische Erfahrung von Distanz, von Nähe und Ferne und von den Dingen, die sich stoßen im Raum. Diese Freiheit des Unterwegsseins hatte ich bisher noch nicht erfahren. Das Ungewöhnliche hat ja seinen Reiz: Allein mit der eigenen Muskelkraft von nördlichen Breiten bis zum Südpol gelangen. Das hat noch niemand zuvor gemacht. Ja, ganz ohne gesellschaftlichen Ansporn, ganz ohne Lust auf Leistung lässt sich keine neue Erfahrung gewinnen, auch das muss man sehen.
Den Claim meines Ausstatters Transa habe ich mir zu Herzen genommen. Es hat sich gelohnt. Je besser die Vorbereitungen, umso eher kann eine so große Reise gelingen. Es gibt so viel zu bedenken. Ziele, Zeiten, Routen und Material. Es ist wie beim Malen und Lackieren. Nach der guten Herrichtung des Untergrunds ist der Umgang mit dem Pinsel ein Kinderspiel. So viel wird geredet, so viel behauptet. Manches ist kritisch zu bedenken – und doch ernst zu nehmen. So erklärte mir ein Amerikaner, der am Rand von Mexico City im Luxus seiner Villa schwelgt, eine Fahrt auf dem Rad durch das Land sei für eine Frau tödlich. Riskanter als Gletscherspalten? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, ich habe Glück gehabt und lebe noch. Die Frau des Amerikaners fährt ausschließlich in ihrer Limousine mit Bodyguard zum Einkaufen. Ob sie sich nicht gerade damit gefährdet?
In England gibt es das Sprichwort: »Nur ein schlechter Handwerker tadelt sein Werkzeug.« Das heißt, man soll die Fehler erst bei sich selber suchen. Das finde ich auch. Anderseits ertragen große Unternehmungen keine Halbheiten. Wer sie sich leistet, lebt nicht lange. Das gilt im Alpinismus wie in der Antarktis. Nicht dass ich irdischen Gütern übermäßig Bedeutung zumesse. Wer mich kennt, weiß, wie bescheiden ich lebe. Zu Miete in einem Drei-Zimmer-Chalet, das gerade mal eine Katze als Mitbewohnerin duldet. Aber bei großen Vorhaben ist taugliches Material die erste Bedingung. Da halte ich auch das Beste nicht für Luxus. Egal, was es kostet. Viel oder wenig. Es kann auch mal das Einfachste, Günstigste sein. Fest steht: Niemand geht barfuß zum Südpol. Niemand ohne Schlafsack und Zelt. Draußen in der Natur, wo es um das »survival of the fittest« geht, bist du allein. Wenn du dich auf jemanden verlassen können musst, dann auf dein Material. Und natürlich auf dich.
Vorerst brauchte ich für die Strecke von Innertkirchen bis Punta Arenas ein Fahrrad. Aber was für eines? Es sollte mindestens 25 000 Kilometer fit bleiben, um nicht vielleicht kurz vor Schluss in der Atacama-Wüste liegen zu bleiben. Ich besuchte einen Mechanikerkurs, um Bremsklötze, Bremskabel, Speichen, Plattfüße, Gangschaltung und Kette nach allen Regeln des Handwerks zu warten und zu reparieren – und lernte dabei, dass es Fahrräder und Fahrräder gibt. Welche Kriterien sollte das meine erfüllen? Preis, Größe, Zuverlässigkeit, Sportlichkeit, Bequemlichkeit … Bis ich mir ganz sicher war, verstrichen anderthalb Jahre. Leicht sollte es sein, also Aluminium. Doch Aluminium ist brüchig und lässt sich nicht so leicht schweißen. Also doch lieber der schwerere Stahl. Um das Gewicht gering zu halten, wählte ich eine für meine Länge etwas zu kleine Größe. 56 Zoll statt 59 Zoll. Für eine angenehme, aufrechte Sitzposition fügte ich einen ziemlich hohen Lenker hinzu. Damit handelte ich mir zwar mehr Luftwiderstand ein, aber Nacken und Handgelenke brauchten nicht so zu leiden.
Читать дальше