Wenn die Ostantarktis ganz eisfrei wäre, das geht aus entsprechenden Karten hervor, dürfte die übrig bleibende Landmasse der zersplitterten Seenlandschaft Finnlands und Kanadas gleichen. Und immer wieder stoßen die Forscher auf neue Überraschungen: Vor ein paar Jahren wiesen Satellitenaufnahmen in der Nähe der russischen Station Wostok auf einen riesigen See hin, bedeckt von mehr als 3600 Meter dickem Eis.
Je mehr ich erfuhr und erahnte, umso unwiderstehlicher zog mich der Kontinent an, in dem es zur Zeit meiner Vorbereitungen noch keinen Zahnarzt und keinen Linienflug gab. Ja, es ist schon ein besonderer Ort. Da ist bis heute kein Staat zu machen und wird hoffentlich auch nicht so bald einer gemacht. Welch ein Kontinent: ohne Regierung, ohne Flagge. Frei von wirtschaftlicher Ausbeutung und fern von militärischen Konflikten sollte gemäß dem internationalen Antarktisvertrag von 1961 kein Mensch dieser Region seinen Stempel aufdrücken. Niemand besitzt Antarctica. Antarctica ist Niemandsland geblieben. Kein Krieg, kein Aufstand, keine Revolution hat je den Kontinent erschüttert. Die Ureinwohner, die Pinguine, leben nach ihren eigenen Gesetzen zusammen. Ein Meer der Stille. Fast wie auf dem Mond.
Nur an den Rändern und in den wenigen eisfreien Gebieten kann sich etwas Leben entwickeln. Mikroorganismen, Flechten und Moose sowie zwei Blütenpflanzen, die antarktische Schmiele und ein Nelkengewächs. Das größte dauerhaft landlebende Tier ist eine zwölf Millimeter große, flügellose Zuckmückenart. Nichts schimmelt, nichts fault in der aseptischen Welt der küstenfernen Regionen.
Bis heute ist der Homo sapiens hier ein flüchtiger Gast. Einige wenige Tausend sind es im Sommer. Weniger als die Hälfte bleiben über den Winter: weltweite Halbnomaden, die zwischen den Unis der Welt und den rund achtzig antarktischen Forschungsstationen hin und her pendeln. Selbst auf der größten dieser Stationen, der amerikanischen McMurdo-Station auf der Ross-Insel, übersommern kaum mehr als tausend Personen.
Auch in den nächsten Jahren dürfte es niemanden hierhin verschlagen, um sich häuslich niederzulassen und sich Schätze und Reichtum zu holen. Nur wenige sind hier geboren, aber schon viele gestorben. Erfrieren kann man sowieso, aber auch verhungern. Robert Scott ist verdurstet, mitten im größten Trinkwasser-Reservoir dieser Erde. Doch wo ist der Brennstoff, um es zu verflüssigen? Nichts ist hier leicht zu nutzen, weder Erde noch Feuer und auch nicht die Bodenschätze, so reichlich sie vorhanden sein mögen. Was ich auf Antarctica finden sollte, war eine Landschaft »reduced to the max«. Heller, klarer, sonniger und reiner als alles, was ich je erlebt hatte.
Es gibt nur ganz wenige Reize, aber die in schier unerträglichem Ausmaß. Da ist der Himmel, das Eis, der Wind und die Kälte. Nichts sonst. Bis zur Unerträglichkeit. Da locken nur geistige Werte. Der Ruhm vielleicht, die Suche nach wissenschaftlicher Erkenntnis und die Suche nach sich selbst in so viel Einsamkeit, in einer unendlich scheinenden, unberührten Natur – welch schöne Utopie zur Verwirklichung meiner Träume.
2002 bis 2006
Ans Ende der Welt – und zurück zu mir selbst
Am Anfang hatte ich die Begehung von drei äußersten Punkten auf dieser Erde geplant: dem höchsten, dem nördlichsten und dem südlichsten. Der Everest, der Nordpol und der Südpol. Mein nächstes Ziel nach meiner Everest-Begehung im Jahr 2001 war der Nordpol. Zum Training flog ich nach Resolute auf Cornwallis Island. Dieser kanadische Vorposten des hohen Nordens in der Baffin Bay, die in der Erforschung der Nordwestpassage Geschichte gemacht hatte, dient heute mit seiner Jet-Landepiste als Ausgangspunkt für viele Reisen in die Arktis. Hier nun erprobte ich meine Kältetauglichkeit und die Tauglichkeit verschiedener Ausrüstungsgegenstände – und lernte meine Grenzen kennen, glücklicherweise ohne dass ich sie praktisch zu erfahren brauchte.
Über Umwege fand ich in einer nahen Wetterstation Zugang zu Wayne Davidson, einem Klimatologen, der mich in die Tücken der Arktis einführte. Er zeigte mir auf Satellitenbildern, wie bei Vollmond im Packeis im Verlauf eines Tages eine über 200 Kilometer lange und 16 Kilometer breite Wasserspalte aufriss. Weil die arktische Polkappe kein Festland aufweist, sondern lediglich aus einer Platte von Packeis besteht, wird sie von Wind, Wetter und unter dem Einfluss der Mondphasen ständig bewegt. Druck und Zug pressen die Eisplatten gegeneinander hoch, reiben sie aneinander oder reißen sie weit auseinander. Wayne fragte, ob ich wisse, was mit einem geschieht, der sein Camp zufällig in dieser Zone aufschlägt. Ohne meine Antwort abzuwarten, sagte er trocken: »You are going to die.« Wer Glück hat, schwimmt mitsamt dem Zelt wie auf einem mächtigen Floß von dannen, mutterseelenallein – oder in Gesellschaft eines Eisbären.
Ein bekannter Sologänger, der daran war, den Nordpol von Russland aus nach Kanada zu überqueren, bestätigte später Waynes Warnung Wort für Wort. Er wagte sich auf junges Eis, das beim Durchzug einer Schlechtwetterfront von der Packeisplatte wegbrach. Die Bilder in den Medien vom einsamen Burschen, der sich von furchtlosen russischen Piloten von der Eisscholle bergen lässt, sehen beeindruckend aus. Die Naturgesetze der Arktis bestrafen menschlichen Ehrgeiz, der sich mit Ungeduld paart. Nur die neuesten Hilfsmittel wie Satellitentelefon und Helikopter haben die Rettung des Sologängers ermöglicht. Wer mit den Verhältnissen vertraut ist, kann das Risiko einschätzen und vermeidet die gefährdeten Stellen. Ich hatte begriffen, dass ich die Lage in den Bergen, aber nicht die in der Arktis beurteilen kann, und beschloss: Ich will festen Boden unter den Füßen haben. Festland wie auf Antarctica.
Auf der Suche nach einem Konzept
Schritt für Schritt hatten sich meine antarktischen Träume der harten Wirklichkeit und meinen begrenzten Möglichkeiten anzunähern. Mein erster Traum war es, die ganze Antarktis zu durchqueren. Von Küste zu Küste. Allein und zu Fuß. Daraus ist nichts geworden, weil ich zu wenig unvernünftig war. Ich informierte mich und versuchte mir vorzustellen, was diese und jene Information in Wirklichkeit für mich, auf mich allein gestellt, bedeuten würde. Ich suchte den kürzesten Weg vom »Rand« des Kontinents, das heißt vom Ronne-Schelf im Weddell-Meer, südlich von Südamerika, zum Pol. Und ich schaute, wohin ich gehen müsste, wenn ich den kürzesten Weg zum »Rand« auf der gegenüberliegenden Seite wählen würde. Nach McMurdo am Ross-Schelf. Selbst unzulängliche Karten machten mir klar, dass sich zwischen dem Pol und McMurdo das Transantarktische Gebirge hinzieht. Eine lange Kette hoher Gipfel, die nicht zu umgehen, aber zu übersteigen sind. Auf etwas genaueren Karten sind Gletscher zu erkennen. Und wo sich Gletscher über Senken und Kreten wälzen, öffnen sich Spalten. Ich konnte einen Übergang über den Beardmore- oder den Shackleton-Gletscher wählen, doch das ist wie die Wahl zwischen Pest und Cholera. Ich bin Bergführerin. Ich habe Freunde in Spalten verloren, ich habe gesehen, wie Leute in Spalten einbrachen. Einige zog ich eigenhändig am Seil wieder raus. Nicht dass ich vor Spalten Angst habe. Aber Respekt. Eine Seilschaft kann sich sichern. Im Alleingang kann mir alles passieren. Es ist nicht mein Traum, in der blau gleißenden Enge einer Spalte zu erfrieren.
Die Idee Südpol begann Form anzunehmen: Anreise ab Innertkirchen aus eigener Kraft bis Punta Arenas im tiefsten Süden Südamerikas und dann allein und ohne fremde Hilfe auf Skis vom Ronne-Schelf bis zum Pol und mit dem Flugzeug wieder zurück. Das musste klappen. An der Grenze der menschlichen Möglichkeiten – aber möglich, wenn ich mich voll darauf konzentrierte, alles gab und die nötigen Vorkehrungen traf, um sicher anzukommen und wieder nach Hause zu finden.
Читать дальше