Schreie.
Alle Tische waren besetzt, die Kellnerin hatte ihr volles Tablett fallen gelassen und ich versuchte, die Situation zu erfassen.
Ella saß steif wie ein tiefgefrorener Fisch auf ihrem Stuhl und hielt sich die linke Schulter.
Herzog war unter dem Tisch verschwunden.
Eindeutig: Der Anschlag galt uns. Also Ella oder Herzog, oder beiden …? Oder war alles ganz anders …?
Blauer Kombi. Davon gibt es in München vermutlich tausende. Fanny blieb zweiter Sieger. Herzog lag noch immer hinter dem umgekippten Tisch und Ella fing entsetzlich zu jammern an. Inzwischen waren wir drei die einzigen Gäste in der ›Kulisse‹. Panikartig hatten die anderen Luschen den Laden verlassen. Ich kümmerte mich um Ella und stellte fest, dass sie eine der Kugeln am Oberarm getroffen hatte. Streifschuss, aber das Chanel-Jäckchen war nur noch was für den Müll. Dass Ella Schmerzen hatte, war mir völlig klar. Sie war noch immer steif wie ein Stockfisch am Stock.
Jetzt hörte ich eine Sirene. Eine der Kellnerinnen fing ganz sinnlos an, die Scherben der zerborstenen Scheibe aufzufegen.
Schockreaktion pur.
Nun rappelte sich auch Herzog wieder auf. Er versuchte, seinen schwarzen Kaschmirmantel abzuklopfen.
Nervosität pur.
Die Streife sperrte sofort den Bereich rings um die ›Kulisse‹ großräumig ab. Profis. Zwischen Valentino und Hermes …
Perfektion pur.
Ich hatte in den Sekunden dazwischen die 110 angerufen und einen Krankenwagen geordert. Ella musste auf jeden Fall behandelt werden. Ein Gespräch mit Herzog war nicht möglich; Ella wurde versorgt. Alles halb so schlimm, aber für ein junges Mädchen natürlich der Horror. Eine Narbe am Oberarm. Arbeit für ihren Vater. Der würde vermutlich sagen: „Kindchen, das gibt keine Narbe. Ich nähe das so fein, dass du in vier Wochen nichts mehr davon siehst! Wofür hast du den besten Schönheitschirurgen Deutschlands zum Vater!“
Um sie dann für acht Wochen zur Kur nach Honolulu zu schicken.
Ich war gerade dabei Fanny zu streicheln. Er war geknickt, dass er den blauen Kombi nicht erwischt hatte, als plötzlich Sepp neben mir stand:
»Du hast aber auch nur Scheiße am Hacken, Doktor! Wo du auftauchst, sterben die Menschen. Vielleicht solltest du umschulen zum Heilpraktiker.«
Schaler Humor.
Aber es stimmte schon. Irgendwie war ich in etwas hineingeraten, von dem ich keine Ahnung hatte. Auch kannte ich den Grund für den Mord und die soeben stattgefundene Schießerei nicht.
Fest stand für mich: Zwischen dem Mord an Fee und dem Anschlag auf Ella, Adalbert Herzog oder/und mich gab es einen Zusammenhang. Das war mein Ansatzpunkt und den Link musste ich herausfinden.
Aber dazu brauchte ich erst mal einen Auftrag. Just for fun würde ich nicht ermitteln …
Vier Schüsse. Vier Geschosse wurden gefunden. In der Theke, in der Tür zum Klo, in der Wand der ›Kulisse‹.
»Die stammen definitiv aus einer ‚Strisch‘, Russlands neuer Wunderwaffe. Die Pistole hat ein Kaliber von 9×19 mm. Das Standardmagazin hat 17 Patronen, die Sturmvariante 30 Patronen. Gerade haben wir die im Kommissariat vorgestellt bekommen. Die Strisch ist besser als alles andere auf dem Markt. Wahnsinnig schnelle Schussfolge, hohe Treffergenauigkeit, wenig Rückstoß und eben mit einer Munition ausgestattet, die man sofort erkennt. Sie wurde speziell für die Polizei-, Sicherheitsbehörden und die Geheimdienste entwickelt.«
Sepp war fasziniert und gleichzeitig geschockt.
»Wenn die schon bei uns im Einsatz ist, dann haben wir es mit richtig bösen Buben zu tun.«
Seine Art von Humor.
Ella sah hinreißend aus.
Der provisorische Verband am linken Oberarm stand ihr gut. Besser als das Chanel-Jäckchen. Ihr Make-up war gewöhnungsbedürftig. Sie versuchte es mit einem Lächeln. Das galt mir. Nachdem Sepp uns alle befragt hatte und wir, Fanny ausgenommen, unseren Senf abgegeben hatten, bot ich Ella an, sie zu ihrem Vater in die Klinik zu fahren …
»Komm. Alles andere hat jetzt Zeit. Du solltest dir eine Auszeit gönnen. Ich bringe dich zu deinem Alten.«
»Oh ja, das ist lieb von dir, Daniel«, flötete sie mich an und zu Herzog: »Adi. Es ist alles viel schlimmer! Aber ich bin sicher, Herr Richter kann dir helfen, okay?«
Sie lächelte den Vater ihrer verstorbenen Freundin an, der noch immer völlig von der Rolle war. Nicht einmal eine Gauloises hing zwischen seinen Lippen.
»Du solltest dich nachschminken«, antwortete er völlig zusammenhanglos. »Dein Lidschatten ist verschmiert, Kindchen.«
Herzog deutete mit dem Zeigefinger auf Ellas Gesicht. Der Immo-König hatte wohl seine getötete Tochter vor Augen. Dann zog er aus seiner Manteltasche ein Kärtchen, überreichte es mir mit den Worten:
»Kommen Sie morgen um elf in mein Büro!«
Jetzt war er wieder ganz der große Macker in Sachen Immobilien. Herzog wurde auf mehrere Milliarden geschätzt. Allein auf der Straße der Schießerei sollen ihm an die zwanzig Häuser auf der Seite des Hotels ›Vier Jahreszeiten‹ gehören, die er über Jahre einem alteingesessenen Anwalt abgekauft – oder soll man sagen, weit unter Wert ‚abgeluchst‘?? – hatte.
Er ging zu seinem BMW Z8, wir mit Ella und Fanny zu meinem läppischen Jaguar.
Fanny schaute mich mal wieder schräg an, weil ich ihn nach hinten bat. Das musste sein, denn Ella war schließlich verletzt.
Ich fuhr sie straight zur Klinik ihres Vaters, die den blöden Namen ›Temple de la Beauté‹, Tempel der Schönheit, trug, zur Scheinerstraße. Wolkenheim, der seine Professur angeblich irgendwo in Litauen erhalten haben soll, stand schon am Eingang, nachdem ihm Ella von unterwegs eine SMS geschrieben hatte. Wortlos übergab ich dem diensthabenden Schnippler seine Tochter und fuhr nach Grünwald.
Mein Tag war gelaufen. Ich wollte jetzt nur noch zu Anna.
AKBAY Gökhan lag mit zwei blonden Schönheiten auf seiner Yacht. Die Sonne knallte auf die fast nackten Körper. Von Land hörte man den Muezzin vom Minarett der Sultan-Ahmed-Moschee in Istanbul rufen. Es roch nach Sonnencreme und Champagner. Die Yacht lag, leicht schaukelnd, nahe der Bosporusbrücke. Beide neben Akbay liegenden Handys klingelten fast zeitgleich.
»Bu yanlış gitti budur…« = : „Es ist was schiefgegangen …“
Der Himmelsherrscher, also Gökhan, so die Deutung seines Familiennamens, sprang hoch, rutschte auf einer Tube Sonnencreme aus, fluchte lautstark und beschimpfte die Blondinen, die nichts dafür konnten. Er trat erst der einen, dann der anderen mit voller Wucht in die Seite. Nierenschäden programmiert. Sie nahmen es, die Schmerzen unterdrückend, mit stoischer Ruhe hin. Schließlich wurden sie gut bezahlt.
Schon klingelte das andere iPhone.
»Gökhan!«, brüllte er in das Handy, das nichts dafür konnte, dass er ausgerutscht war.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße! Wie oft soll ich euch noch sagen, dass der einfach zu jung ist, um den Markt richtig zu kontrollieren!«
»Ja aber …«
»Idiot! Nichts mit „aber“. Schafft die Küche weg. Aber schnell!«
»Ist schon geschehen.«
»Çok güzel, prima!«
Und ins goldene iPhone:
»Ich habe verstanden. Ein Grund zum Feiern. Ja. Aber: Alla kahretmesin! Ihr habt es wieder so dilettantisch gemacht wie letzte Woche in Amsterdam! Das ist Scheiße, bok, bok, bok!«
Danach legte sich Akbay, was im Türkischen soviel wie „ein ehrlicher Reicher“ heißt, wieder zwischen die beiden Schönen. Er griff ihnen dahin, wo eigentlich ein Teil der Bikinis seinen Dienst versehen sollte um die letzte Nacktheit zu verbergen und freute sich, dass sie so ordentlich rasiert waren. Das mochte er. Dass er sie gerade Sekunden vorher halb totgetreten hatte, interessierte ihn wenig. Er wollte sich jetzt sofort und auf der Stelle von ihnen einen blasen lassen.
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