Wie diese Elemente zusammenspielen, sehen Sie in folgendem Beispiel:
Jonah stört den Englischunterricht wieder und wieder. Aufgrund seiner zahlreichen unverschämten Bemerkungen beschließt die Lehrerin, dass nur noch eins hilft: der Gang zum Direktor. Jonah weigert sich jedoch. Die Lehrerin ist ratlos. Spielt sie sich groß auf und schimpft mit Jonah, macht sie sich nur lächerlich. Sie beschließt, sich an die Unterstützergruppe ihres Kollegiums zu wenden. Dort wird entschieden, dass sie sich mit dem Sportlehrer zusammenschließen soll. Sport ist nämlich Jonahs Lieblingsfach. Gemeinsam laden sie Jonahs Eltern ein und erzählen von den Vorfällen im Englischunterricht. Weil Jonahs Mutter zunächst über die Anwesenheit des Sportlehrers verwirrt ist, erklärt die Englischlehrerin schnell: »Die Beleidigung eines Lehrers ist Sache des gesamten Lehrkörpers.« Das versteht Jonahs Mutter und schon ist ein Wir geschaffen. Sie ist sich jetzt auch sicher, dass sie gemeinsam die problematische Situation im Englischunterricht gut bewältigen können. Außerdem werden die Eltern dadurch in ihrer Ankerfunktion gestärkt. Sie geben zu, dass es auch zu Hause mit Jonah nicht immer leicht ist, was sich mit den Beobachtungen beider Lehrkräfte deckt.
Am nächsten Tag findet das Treffen statt. Jonah ist überrascht, dass der Sportlehrer auch anwesend ist. Deshalb erklärt ihm der Sportlehrer: »Wir haben einen Grundsatz: Wenn ein Lehrer beleidigt wird, ist das die Sache aller. Wir lassen solche Angelegenheiten nicht auf sich beruhen, sondern versuchen gemeinsam, eine Lösung zu finden. Uns geht es auch nicht darum, dich in deiner Würde zu verletzen, jedoch ist das Beleidigen und Stören im Unterricht für uns nicht akzeptabel.« Die Englischlehrerin ergreift das Wort: »Ein guter Ansatz wäre vielleicht ein Entschuldigungsbrief. Wir schlagen vor, dass du einen solchen verfasst.« Jonah ist zunächst unsicher, da ihm das Schreiben nicht leichtfällt, doch als sich die Runde einigt, dass seine Eltern ihn dabei unterstützen, stimmt er zu. Weil durch Jonahs Stören Schaden angerichtet wurde, schlägt der Sportlehrer eine Wiedergutmachung vor: »Wie wäre es, wenn du mir eine Woche lang nach der Schule eine halbe Stunde hilfst, den Turnsaal aufzuräumen? Später kannst du gern auch anspruchsvollere Aufgaben übernehmen. Zum Beispiel könntest du mir die Woche darauf helfen, die Zeit der jüngeren Schüler zu stoppen. Wie klingt das?«
Jonah willigt ein. Dieser Vorschlag verletzt ihn nicht in seiner Würde, und er kann sogar als rechte Hand des Sportlehrers fungieren. Nach Vollendung seiner Wiedergutmachung wird die Lehrerin in der Klasse verkünden, dass Jonah alles wieder in Ordnung gebracht hat.
Tipps für Wiedergutmachungshandlungen
-Das Kind hat die Nachbarin geärgert und bringt ihr als Entschädigung Blumen.
-Das Kind hat in einem Wutanfall Schaden in der Wohnung angerichtet und wäscht nun für einen Monat einmal wöchentlich das Auto der Familie.
-Das Kind hat seinen Bruder geschlagen und übergibt ihm deshalb ein selbstgebasteltes Geschenk.
-Das Kind schreibt einen Entschuldigungsbrief oder hilft dabei, ein Essen für die ganze Familie zu kochen.
-Das Kind unterstützt die Eltern bei der Garten- und Hausarbeit.
-Das Kind spielt mit der kleinen Schwester oder hilft ihr beim Hausaufgabenmachen.
-Das Kind schreibt eine Geschichte oder entwickelt eine künstlerische Darbietung für zu Hause, einen besonderen Anlass oder die Schule.
-Das Kind fertigt eine Zeichnung für die Klasse an oder bringt Kuchen mit in die Schule.
-Das Kind engagiert sich für ein soziales Projekt in der Schule oder in der Familie.
Noch einmal zusammengefasst
Es gibt viele Möglichkeiten zur Wiedergutmachung in der Familie, in der Schule, in Betreuungseinrichtungen oder auch anderswo. Das Wichtigste an der Wiedergutmachung ist, dass es kein demütigender, sondern ein die Verbindung stärkender, beziehungsfördernder, den Selbstwert unterstützender Prozess ist. Wie wir auch in den Beispielen gesehen haben, sind die Kinder oft von sich aus nicht gleich bereit, ihr Verhalten wiedergutzumachen, da ihre Angst, gedemütigt zu werden und als Verlierer dazustehen, groß ist. Daher ist es sinnvoll, diesen Prozess durch die Eltern oder Lehrer anzustoßen, dabei intensiv mit den Kindern zusammenzuarbeiten und sie zu unterstützen. Die Unterstützer sollten geduldig und beharrlich bleiben und nie die Beziehung zu den Kindern aus den Augen verlieren. Die vorgestellten Beispiele haben gezeigt, wie den Kindern die Idee der Wiedergutmachung nähergebracht werden kann. So entwickeln sich Standfestigkeit, Stärke und Souveränität. Wiedergutmachung stärkt außerdem die Haltungen der Positivität, der Zugewandtheit, des Widerstands und der Beharrlichkeit. Sie ist elementar für starkes und positives Handeln zur Unterstützung der Entwicklung von Kindern.
Wenn Kinder den Prozess des Schadensausgleichs oder der Wiedergutmachung nicht gleich akzeptieren wollen, liegt es an den Erwachsenen, eine Wiedergutmachungsmaßnahme festzulegen. Diese sollte logisch sein und vom Netzwerk der Unterstützer befürwortet werden. Wer durch sein Verhalten andere schädigt, schädigt nicht nur den Einzelnen, sondern auch die Gemeinschaft. Wer Schaden anrichtet, sei es auch nur aus Unachtsamkeit, muss eine Entschädigung leisten. So lernt das Kind in einem konstruktiven Prozess, Lösungen für seine Fehler zu finden, und stärkt seine Fähigkeit zur Resilienz und Kreativität. Das abschließende Beispiel zeigt, dass es dabei ganz entscheidend ist, die Stärken und Leidenschaften des Kindes zu nutzen.
Der 13-jährige Dejan trifft in der Schulpause eine Mitschülerin mit einer Kastanie so hart am Kopf, dass diese einen blauen Fleck bekommt. Die Lehrerinnen sind empört und die Mutter verzweifelt. Dejan ist nicht zum ersten Mal aggressiv. Die Direktorin möchte Dejan vorsorglich für vier Tage suspendieren, dem wird allerdings von der obersten Schulbehörde nicht stattgegeben. Der Werklehrer hat die rettende Idee: Dejan soll eine Wiedergutmachung leisten. Diesmal reicht eine einfache Entschuldigung nicht. Mit diesen ist Dejan nämlich immer ganz schnell. Mithilfe seiner Mutter und der Unterstützung seines Erziehungshelfers und seines Lehrers ist Dejan bereit, den Schaden wiedergutzumachen. Sein Vorschlag: Als geschickter Handwerker und Bastler wird er ab sofort der Mitschülerin, die er mit der Kastanie getroffen hat, im Werkunterricht helfen. Dejan weitet sein Angebot aus und unterstützt bis zum Ende des Schuljahres auch alle anderen Schülerinnen beim Fertigstellen ihrer Projekte. Dejans Aggression hat eine Pause, denn er ist stolz, »endlich mal etwas Vernünftiges zu machen«.
Wiedergutmachung verharmlost nicht das Fehlverhalten, sie fordert sogar einen Ausgleich ein, der die Situation bereinigt und der für die Lösung des Problems notwendig ist. Wiedergutmachung demütigt und erniedrigt nicht. Im Gegenteil: Sie initiiert aus Widerspruch und Konflikt konstruktiven, wertschätzenden Dialog und positives Handeln. Sie ermöglicht aus einem Fehlverhalten heraus Potenzialentfaltung und Aufblühen, sie schafft Beziehung und Resonanz. Es ist kein Honiglecken, sondern harte Arbeit. Aber der Erfolg kann sich sehen lassen.
2Wiedereingliederungs-Versammlungen mit Häftlingen – wie sie Inhaftierten zugutekommen und nahestehenden Menschen helfen 1
Lorenn Walker und Anouck De Reu
»Du bist zu nichts zu gebrauchen«, schreit die Mutter ihre Tochter April an, wobei ihr Spucke aus dem Mund fliegt, bevor sie ihre Lippen wütend vorstülpt. April ist 1958 vier Jahre alt; sie wohnt in einem großen Bundesstaat im mittleren Westen Amerikas. Sie steht dem Alter nach irgendwo in der Mitte von elf Kindern. April erinnert sich, dass, bevor sie 12 Jahre alt war, ihre Mutter »mir sagte, ich solle sterben und es hinter mich bringen. Sie sagte, ich hätte unsere Familie zerstört, und ich sei der Grund dafür, dass sie sich von meinem Vater habe scheiden lassen. Alles, was passiert sei, wäre meine Schuld. Ich hätte all die Probleme verursacht«. April wurde herausgegriffen und während ihrer gesamten Kindheit härter bestraft als ihre zehn Geschwister. Sie erinnert sich, dass ihre Mutter sie einmal, als sie krank war, mehrere Tage lang in einem Zimmer einschloss und ihren Geschwistern »verboten wurde, überhaupt bei mir reinzuschauen«.
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