»Gut«, unterbrach ihn Großmeister Raukhar. »Wir behalten diese Sache im Kreis Weniger. Ich werde morgen eine Handvoll Kampfpriester versammeln und zur Bergsiedlung aufbrechen. Wir müssen wissen, was da passiert ist. Habt Ihr Kultistenleichen gefunden?«
»Nein, … Wer sollte sonst in Frage kommen? Die Kultisten haben es auf uns abgesehen, weil wir das Attentat auf Exarch Gamrion vereitelt haben.«
»Wer sich mit dem Schwert zur Ruhe legt, könnte kopflos aufwachen. Wir werden Ruhe bewahren und die Sache prüfen.«
»Das könnt Ihr nicht von mir verlangen, Ihr müsst unsere Brüder in den Kampf schicken! Wir müssen Mutter Oberin von Burg Alvamund informieren, Großmeister Bahlinor in Wranis. Von vier Tempeln bleiben uns drei, die weit voneinander entfernt sind. Unsere Zahl schwindet. Wir müssen die Kultisten aufspüren und zuschlagen, bevor sie uns wieder angreifen. Wir dürfen nicht länger zögern!«
Der Großmeister erhob sich vom Sessel und durchdrang Finn mit dem Himmelblau seiner Augen. An ihren Rändern hatten sich Krähenfüße eingegraben und verliehen ihnen den Nimbus der Altersweisheit. Sein Wesen schien zu wachsen und den gesamten Raum einzunehmen. »Ihr seid ein Heißsporn und möchtet alle Hürden mit der Klinge nehmen. Euer Kampfesmut ehrt Euch, doch bedenkt: Ein Kampfpriester versteht sich in der Kunst der Klinge und des Glaubens. Obgleich der Glaube eine Klinge sein kann, wenn man ihn zu gebrauchen versteht.«
Finn schrumpfte in sich zusammen. Sein Jähzorn schmolz und wich der Furcht. Was hatte ihn geritten, sich so gehen zu lassen? Raukhar etwas vorzuschreiben, war dumm von ihm. Schamesröte stieg ihm ins Gesicht. »Verzeiht, ich … habe mich gehen lassen.«
Großmeister Raukhar nahm Platz und wies Finn an, es ihm gleichzutun.
Finn setzte sich und der Druck im Raum ließ nach. Erst jetzt merkte er, dass er Gänsehaut im Nacken hatte. Dies war eine Kostprobe des Selbstbewusstseins und der magischen Aura eines Großmeisters gewesen. »Wie habt Ihr das gemacht?«, stotterte Finn.
»Nach dem Durchschreiten der Heiligen Flammen übt Ihr Euch ein Leben lang und vertieft Eure Kräfte. Wir sind keine Mörder, sondern Kämpfer des Glaubens und üben den Zorn der Gerechten. Als der heilige Durhelian vor langer Zeit die Menschen aus den dämonischen Kriegen herausgeführt hat, gab er uns neben dem Indigofeuer auch den Sinn für Gerechtigkeit.«
Finn senkte den Kopf. Es fiel ihm schwer, den Gleichmut Raukhars nachzuvollziehen. »Was können wir tun, Großmeister?«
»Übt Euch in Geduld und betet. Nehmt mein Amulett, überbringt es Schwester Meena, die an der Trümmerküste lebt.«
»Die Trümmerküste ist lang, wo soll ich ihren Tempel finden?«
»Tempel? Nein, Schwester Meena ist … eigen. Sie lebt nicht mehr in den Mauern der Schwesternschaft des heiligen Durhelian. Niemand weiß, wo sie sich aufhält, daher müsst Ihr sie suchen. Ich werde Exarch Gamrion eine Nachricht und die Ergebnisse meiner Untersuchung zukommen lassen. Er muss informiert werden.« Er nahm seine Halskette ab und legte sie Finn um.
Finn fühlte sich erneut zurückgewiesen. Botenjunge. Der Geschmack des Wortes floss zäh durch seinen Kopf.
Wie sollte die Arbeit eines Boten ihren Orden schützen? Während seiner Novizenschaft hatte er in den Kampfpriestern Krieger und Helden gesehen. Nicht abwartende Hinauszögerer. Dennoch besann er sich auf die Weisheit des Großmeisters. »Wie Ihr wünscht«, antwortete er, schloss die Finger um das Amulett mit dem flammenden Schwert und verließ das Ordinariat.
Als er die Tür hinter sich schloss, klaubte er die Kette unter seinen Plattenharnisch. Lahras, Rüstung, Umhang. Weiter hatte er es nicht gebracht. Anders ging es Bruder Eferus. Er hatte einen herausragenden Ruf und konnte sich alles herausnehmen, was immer er wollte und wem gegenüber er wollte. Er brachte es fertig, Menschen von sich zu begeistern. Exarch Gamrion persönlich hatte ihn angefordert, ihn nach Wranis zu begleiten. Bruder Eferus war der Mensch, der Finn sein wollte. Ein Meister in Wort und Klinge, der den Glauben zeitgemäß vertrat.
Auf der Treppe hinab zum Zeremoniensaal begegnete er Bruder Malesen, den Bestienmeister des Ordens. Er hatte es auch nicht weit gebracht.
»Bruder Malesen, verfügt Ihr noch über die Flugechsen, die uns der Schwesternorden vor einem Sommer zum Bergfest geschenkt hat?« Finn war klar, dass Großmeister Raukhar ihn auf eine Pilgerfahrt schickte, damit er sich besann und in innerer Betrachtung übte. Jedoch war über die Art und Weise seiner Reise kein einziges Wort gefallen, also galt es jetzt, die Reise schnell hinter sich zu bringen.
»Ja, die beiden stehen hinten im Hof. Wieso fragt Ihr?«
»Großmeister Raukhar schickt mich auf eine Reise.«
Der Bestienmeister legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen. Das lange, feuerrote Haar ruhte auf seinen Schultern. »Der Alte hat Euch zum Boten degradiert, was?«
Finn drückte sich ein paar Herzschläge um die Antwort. »Ja, das hat er. Also, kann ich eine Echse haben, oder nicht?!«
»Ist ja gut, ist ja gut«, sagt er und marschierte los. »Ich bin froh, wenn ich die Dinger loswerde. Sie fressen pro Woche drei Ziegen, wenn ich ihnen das Futter nicht einteile, verfallen sie in einen Fressrausch und sind dann tagelang träge. Was gäbe ich für Opalhengste, die besitzen Edelmut, ihre Intelligenz und Agilität sind der von Pegasi ebenbürtig.«
Bruder Malesen verließ den Zeremoniensaal über einen Seitenausgang und betrat den Innenhof. Finn blickte ringsherum in die Arkaden, in denen nicht einer der anderen Kampfpriester zu sehen war, da sie um diese Uhrzeit auf dem Markt unterwegs waren, ihren Segen verteilten und andere Aufgaben erledigten.
Bruder Malesen hob einen Kieselstein vom Boden und schnipste ihn der größeren von beiden Echsen in Gesicht. Das Tier öffnete ein Augenlid und entblößte einen schwarzen, senkrechten Schlitz auf goldgelbem Grund. Die Nickhaut flappte eine Sekunde später zur Seite.
»Sie schlafen gern, nachdem sie gefressen haben, besonders im Winter, da sie Kaltblüter sind. Haut dem Größeren aufs Maul.«
»Wie bitte?«
»Haut dem Größeren aufs Maul. Diese Viecher ordnen sich bloß dann unter, wenn Ihr ihnen Eure Dominanz beweist. Zielt auf die Größte, dann müsst Ihr nicht beide schlagen. Sie orientieren sich am Alpha. Ihr habt doch das neue Bestiarium gelesen, das ich verfasst habe? Dieses Mal habe ich sogar im Anhang ein Daemonicum eingefügt.«
»Ja, klar«, log Finn. Das Gekrakel von Bruder Malesen forderte dem Leser Wohlwollen ab, im Gegensatz zu seinen Zeichnungen. Krallen, Augen, Schuppen, Hufe und Hörner; der Mann ließ kein Detail aus. In Gedanken übertrug Finn die Zeichnung in seiner Erinnerung auf das Original. Die Flugechse hatte die ledrigen Flügel um den kieselgrauen Leib gelegt. Ihr schuppiger Körper wölbte sich unter ihren Atemzügen.
Als er sich ihr näherte, erhob sie sich. Finn holte aus und verpasste ihr einen rechten Schwinger aufs Maul. Sie schüttelte sich kurz, fixierte Finn mit ihren Schlangenaugen und schnüffelte an ihm. Dann senkte sie den Kopf und hauchte ihm ihren nach Aas stinkenden Atem entgegen.
»Ich denke, das war fest genug«, meinte Finn.
»Es geht um Dominanz und weniger um Kraft.« Bruder Malesen legte den Kopf schief. »Ihr gebt ein gutes Paar ab. Es ist eine Sie. Ich nenne sie Flöckchen. Wenn sie deinen Geruch aufgenommen hat, erkennt sie dich wieder. Obwohl diese Dinger stinken, haben sie eine Nase wie ein Bluthund, man kann sich ihnen nicht nähern, ohne dass sie einen bereits gerochen haben.«
»Flöckchen? Ist das Euer Ernst? Ihr verbringt zu viel Zeit mit den Biestern, Bruder Malesen.«
»Das nehme ich als Kompliment. Tiere sind besser als wir Menschen. Bei ihnen gibt es keine Heuchelei. Wenn sie Euch nicht frisst, seid Euch ihrer Loyalität sicher!«
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