Die letzten dreißig Jahre lebte Benno Börner ziemlich zurückgezogen in Leuterspring. Er verreiste nicht mehr und wurde von zunehmenden Depressionen geplagt. Sein Tod aber kam irgendwie schnell und unvermutet.
Dann folgten noch die biblische Auslegung und Worte des Trostes. Das also war die Biografie von Benno Börner. Zumindest handelte es sich dabei um das, was Tochter Gabriele und ihr Ehemann Doktor Schmuck von Pfarrer Ebeling wollten, dass er es über ihn sagte.
Zurückgezogenheit und Verbitterung über das Leben! Auch Helga Ziegler war von jener Bitterkeit durchsetzt.
So etwas kam nicht von ungefähr. Es musste irgendetwas geschehen sein, über das bislang Stillschweigen bewahrt worden war. Und es musste mit dem Toten vor der Kirche zusammenhängen. Das jedenfalls vermutete Pfarrer Ebeling, obwohl es eigentlich keinen einzigen Anhaltspunkt für diese Annahme gab.
Die Tür fiel ins Schloss. Seine Frau musste nach Hause gekommen sein. Er hörte, wie sie Einkaufstaschen absetzte und die Kühlschranktür öffnete. Sie hatte eingekauft. Ebeling verspürte wenig Lust, sie zu sehen. Seine Gedanken kreisten um Cora.
Er griff zum Handy und schickte ihr eine Nachricht. An den beiden blauen Haken erkannte Ebeling, dass sie seine Zeilen sogleich gelesen hatte. Dann sah der Pfarrer, dass Cora im Begriff war, zurückzuschreiben.
So ging es eine Weile hin und her, bis am Abend eine Verabredung der beiden stand. Ihm war klar, dass er sich noch etwas einfallen lassen musste, was er seiner Frau als Grund für das geplante Fortgehen auftischte. Vermutlich glaubte sie ihm seine Geschichten längst nicht mehr und ahnte, dass es billige Ausreden waren. Wusste sie auch, dass eine andere Frau dahintersteckte?
Coras braune Augen funkelten. Die gedimmten Glühlampen unter der Decke des Restaurants, in dem sie sich zum Essen an einen der hinteren Tische gesetzt hatten, spiegelten sich in ihnen. Verliebt schauten die beiden einander an.
Sie hatten Bad Harzburg als Treffpunkt gewählt. Interessiert studierten sie die Speisenkarten und lasen sich gegenseitig jene Gerichte vor, die auf ihren anfänglichen Geschmack trafen. Irgendwann fiel die Entscheidung und sie bestellten ihr jeweiliges Menü. Cora bevorzugte Fisch, während Jörg gern Fleisch aß. Da sie beide mit dem Auto hierhergekommen waren, tranken sie Alkoholfreies, wenngleich ihnen ein trockener Rotwein lieber gewesen wäre.
»Hast du inzwischen reinen Tisch gemacht oder bin ich noch immer deine heimliche Mätresse?«, fragte sie ihn schließlich.
»Ich wollte es ihr sagen, aber ich konnte es noch nicht. Der richtige Augenblick dafür – er war noch nicht da.«
»Den richtigen Augenblick für so etwas wird es wohl nie geben. Dir fehlt der Mut. Den musst du aufbringen, wenn du mich wirklich haben willst.«
»Ich will dich. Dessen bin ich mir sicher. Nur dich. Aber ich habe Angst, meine Frau zu verletzen, ihr wehzutun.«
»Trennung bedeutet nun mal Schmerz.«
»Ja. Ich habe eine neue Freundin und meine Frau steht allein da. Das ist irgendwie nicht fair.«
»Deine Frau mit mir zu betrügen geziemt sich für einen Pfarrer erst recht nicht.«
»Ich weiß, Liebes. Morgen werde ich es ihr beichten. Ohne Rücksicht auf Verluste.«
»Na hoffentlich. Und was machen deine Recherchen in Sachen Todesfall vor deinem Gotteshaus?«, wollte Cora nun von ihm wissen.
»Ich komme ganz gut voran. Ich weiß jetzt, wer das junge Mädchen auf dem Foto ist, das der Tote bei sich hatte. Ich habe sogar vor ungefähr zehn Jahren ihren Vater beerdigt. Eine treue Gottesdienstbesucherin von 92 Jahren war einst die Patentante dieses Mädchens. Sie hat nicht besonders gut über sie gesprochen. Vielleicht war der Tote ein früherer Freund des Mädchens.«
»Und weshalb kommt der nach so vielen Jahren nach Leuterspring zurück?«
»Keine Ahnung. Das werde ich noch rausfinden müssen.«
»Wie willst du das denn? Und was soll es bringen? Der Tote war ein Obdachloser. Ein Alkoholiker.«
»Zunächst einmal war er ein Mensch.«
»Ja, Jörg. Ich habe das Foto, das wir von dem Toten gemacht haben, an die sozialen Medien und die überregionale Presse weitergegeben. Das weißt du doch. Keine Reaktion. Ich habe es auch nicht anders vermutet. Es bleibt ein tragischer Todesfall, für den wir keine Erklärung haben und sicherlich auch nicht bekommen werden. Für die Staatsanwaltschaft ist es kein Fall. Ich habe genug anderes zu tun.«
»Ich habe die Zeit und die Motivation, die rätselhafte Geschichte zu ergründen. Vielleicht werde ich nicht weiterkommen. Aber das wird sich zeigen. Möglicherweise weiß Frau Schmuck, das Mädchen vom Foto, wer der Mann war, der ihr Bild so sorgfältig aufbewahrt hatte und nach Leuterspring gekommen ist, um dort zu sterben.«
»Warum willst du das alles in Erfahrung bringen?«
»Ich glaube, Gott hat es mir aufgetragen.«
»Wie denn?«
»Indem er den Toten vor meine Kirchentür gelegt hat.«
»Man kann dich von deinem Vorhaben nicht abbringen. Was du dir einmal in den Kopf gesetzt hast, das ziehst du durch. Nicht wahr?«
Der Pfarrer nickte.
»Nur was uns anbelangt, da machst du keinen reinen Tisch mit deiner Frau.«
Ebeling senkte verlegen seinen Kopf.
Die Speisen wurden serviert.
Der erste Sonntag nach dem Leichenfund in Leuterspring war angebrochen. Die arktische Kälte hatte sich dorthin zurückgezogen, wo sich ihr Ursprung befand. Mildere Temperaturen lagen über dem Harz und sorgten für Tauwetter. Obwohl das Quecksilber nur geringfügig über den Gefrierpunkt hinaus gestiegen war, fühlte sich die Luft frühlingshaft warm an. Die Menschen atmeten tief durch nach den zwei zurückliegenden Winterwochen, von denen erst in der zweiten reichlich Schnee gefallen war. Die erste Woche war einfach nur bitterkalt und trocken.
Kirchenvogt Vahldieck hatte den geschlängelten Weg hinauf zur Kirche mit reichlich Sand abgestreut, damit die zu erwartenden Gottesdienstbesucher auch sicheren Fußes zur Kirche gelangten.
Die Glocke im Turm bewegte sich wild hin und her und ihr Klöppel mühte sich, den tiefen Klang aus ihr herauszuholen. In den letzten Minuten vor Beginn des Gottesdienstes kamen einige Menschen eilig herbei. Insgesamt wurden es sechs ältere Damen, unter ihnen auch die 92-jährige Helga Ziegler, und vier Herren, die längst im Ruhestand weilten. Der Pfarrer mit seinen sechzig Jahren war der Jüngste an diesem Morgen in der Kirche. Vahldieck kratzte sich am Kopf und fragte sich, ob es überhaupt noch lohnte, so früh aufzustehen, um das Gotteshaus für teures Geld zu heizen.
Ebelings Frau kam schon lange nicht mehr zur Kirche, weil sie offenbar keine Lust verspürte, den Worten ihres Mannes von der Kanzel zu lauschen. Auch seine Freundin Cora Dennigsen hatte es offensichtlich vorgezogen, in ihrer Wohnung in Goslar im sicherlich warmen Bett zu bleiben. Vielleicht hatte sie auch geahnt, dass Ebeling den toten Obdachlosen vom vergangenen Dienstag zum Thema seiner Predigt machen würde und einfach keine Lust darauf verspürt.
So sangen die wenigen Stimmen an diesem nicht mehr ganz so winterlichen Sonntagmorgen ein paar verstaubte Kirchenlieder. Dabei verhallten sie scheinbar im Nichts. Dann betrat Ebeling seine Bühne, auf der er zu Hause war: die Kanzel. Aufmerksam schienen ihm die wenigen Besucher seines Gottesdienstes zuzuhören.
»Liebe Gemeinde,
am letzten Dienstag fand ein armer Mensch sein trauriges Ende vor unserer Kirche, in die er sich vermutlich vor der inzwischen verflogenen eisigen Kälte flüchten wollte. Doch die Tür war versperrt. Aus Sicherheitsgründen verschließen wir sie lieber. In diesem Fall war es tragisch. Der Tote hatte zu Lebzeiten offensichtlich keine Kraft und Muße, sich zu pflegen und rein zu halten. Aber er trug ein Bild bei sich aus vergangenen Tagen. Das Bild hatte er gehütet wie seinen Augapfel. Es hat ihn vermutlich an seine Kindertage erinnert. Diese Erinnerung hat er bei sich getragen, vielleicht über vierzig Jahre lang. Das Foto zeigt ein junges Mädchen. Es wurde einst in dieser Kirche konfirmiert. Was den armen Mann mit ihr verbindet oder verbunden hat, weiß ich noch nicht. Aber ich will und werde es herausfinden. Ich denke, das bin ich Gott schuldig, wenn er schon vor den Pforten seines Hauses ums Leben kommen musste.
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