»Wie alt mag sie da sein?«, wollte die Staatsanwältin wissen.
»Fünfzehn oder sechzehn, würde ich sagen.«
»Das heißt, dann ist sie inzwischen um die sechzig, wenn sie damals wirklich so jung war und heute noch lebt und das Foto tatsächlich so ungefähr Mitte der Siebzigerjahre aufgenommen worden ist.«
»Auf über sechzig würde ich den Toten auch mindestens schätzen«, merkte Ebeling an.
»Mal sehen, was die Obduktion ergibt«, stellte Cora Dennigsen fest und steckte das Foto wieder ein.
»Heb das gut auf!«, riet ihr der Pfarrer.
»Wenn kein Verbrechen vorliegt, handelt es sich auch um keinen Fall. Dann bringe ich es dir wieder mit und schenke es dir. Nun muss ich ins Büro, sonst zieht mir mein neuer Chef die Hammelbeinchen lang.«
»Um deine wunderschönen Beine kümmere ich mich lieber selbst«, lachte der Pfarrer.
Doch Cora Dennigsen überging seine zweideutig eindeutige Bemerkung mit einem müden Lächeln. Der Moment war verstrichen, der alles hätte verändern können. Ein Toter lag zwischen ihren Gefühlen und genoss höhere Priorität.
Der Amtsvorgänger des neu eingeführten Oberstaatsanwalts Dr. Jünger hatte immer die Distanz zu seinen Kollegen gewahrt und war nie einfach in das Büro eines Staatsanwalts hereingeplatzt. Doch der Nachfolger scherte sich um Diskretion einen Dreck. Ohne anzuklopfen drang er in Cora Dennigsens Büro ein und stellte sie wegen der angeordneten Obduktion des toten Stadtstreichers zur Rede.
»Sie haben ganz offensichtlich nichts Wichtigeres zu tun. Haben Sie sich den Aktenberg einmal angesehen, der sich hier, aus welchen Gründen auch immer, aufgetürmt hat?«
»Wollen Sie mir unterstellen, dass ich meine Arbeit zu langsam oder unvollständig mache?«, zeigte sie sich empört über diesen Auftritt.
»Die Staatsanwaltschaft arbeitet nicht effizient genug. Viel zu viele Strafsachen bleiben zu lange auf unseren Schreibtischen liegen. Wenn die Dinge vor Gericht kommen, wissen Beschuldigte häufig nicht einmal mehr, weswegen sie überhaupt vor Gericht stehen. Das muss sich ändern. Und das wird sich ändern. Es ist tragisch, wenn ein Stadtstreicher wegen der lausigen Kälte erfriert. Aber wir können uns nicht damit aufhalten, diesen Fall als Offizialdelikt zu behandeln. Das ist er nämlich nicht. Der Mann war ein Trinker und jetzt, wo es kalt geworden ist, da ist ihm eingefallen, dass er kein Dach über dem Kopf hat. Einer von denen, die nicht einmal für sich selbst Verantwortung übernommen haben. Da muss der Steuerzahler nicht noch für eine kostspielige und völlig sinnlose Obduktion zur Kasse gebeten werden.«
»Wir kennen nicht einmal die Identität des Toten. Alkoholisiert ist er gewesen, als er gestorben ist. Das konnte man riechen. Dass es sich um einen Stadtstreicher handelt, nehmen wir aufgrund seines äußeren Erscheinungsbildes an. Wissen tun wir das nicht. Zu einer guten Arbeit der Staatsanwaltschaft gehört eine sorgfältige Ermittlung. Ich möchte Fremdverschulden ausschließen.«
»Liebe Frau Dennigsen, wer soll denn einen Penner umbringen und dafür lebenslangen Knast riskieren? Ein Mord braucht ein Motiv. Das sehe ich in diesem Fall nicht im Mindesten.«
»Sagen Sie bitte nicht liebe zu mir. Sehr geehrter Herr Oberstaatsanwalt, bisher konnten wir hier in eigener Verantwortung arbeiten und unser Vorgesetzter hat uns vertraut. So würde ich das gern in Zukunft auch handhaben.«
»In Zukunft befolgen Sie Anweisungen. Ich muss Sie wohl nicht daran erinnern, dass Sie als verbeamteter Mensch – ich hoffe, ich habe mich in Gendersprache korrekt ausgedrückt – weisungsgebunden sind. Ich bin als Ihr Vorgesetzter dafür verantwortlich, dass diese Behörde künftig effizienter arbeitet. Da können wir uns nicht mit Bagatellen aufhalten. Oder haben Sie einen Anfangsverdacht?«
»Was bitteschön soll ein Anfangsverdacht sein? Verdacht ist Verdacht.«
»Ich muss Sie ja wohl nicht über den Terminus Anfangsverdacht aufklären. Dieser Begriff ist in unserem Berufsstand allgemein üblich. Spielen Sie hier bitte nicht die Oberlehrkraft. Haben Sie nun einen solchen Verdacht? Ja oder nein?«
»Nein.«
»Also, in Zukunft nichts ohne mein ausdrückliches Einverständnis. Diese Aktion bleibt Ihre einzige eigenmächtige. Ich hoffe, wir haben uns verstanden. Schönen Tag noch.«
Er machte auf dem Absatz kehrt und verließ schwungvoll das Büro der Staatsanwältin.
Cora rechnete nach. Sie war jetzt 45 Jahre alt. Das bedeutete, dass sie noch über zwanzig Jahre bis zu ihrer Pensionierung vor sich hatte. Ihr neuer Chef war 43. Wenn er nicht eines schönen Tages Justizminister werden sollte, würde sie ihre Pensionierung unter diesen Arbeitsbedingungen nicht erleben. Sie grübelte über die Möglichkeit einer Versetzung nach.
Jörg Ebeling dachte an seine Pensionierung, deren Schwelle er in drei bis fünf Jahren erreichen würde. Als das junge Brautpaar vor ihm am Altar des Herrn stand und sich das Jawort gab, überlegte er für einen Augenblick, wie vielen Pärchen er das ewige Treueversprechen in all den Dienstjahrzehnten schon abgenommen hatte und wie viele es später vermutlich gebrochen hatten.
Eigentlich empfand er es als romantisch, dass trotz der immer stärker um sich greifenden Nüchternheit Menschen den Weg in die Kirche beschritten, um vor Gott zu bezeugen, dass sie sich füreinander geschaffen glaubten. Meistens verlief das Leben anders, als junge Menschen es sich vorstellten. So kreisten die Gedanken des Pfarrers um seine eigene Ehe, die am Boden lag. Und er dachte an Cora. Er fühlte eine Sehnsucht, als er das Lachen der jungen Menschen sah, die vor ihm standen und die Ringe tauschten. Es war dieses eindeutige, uneingeschränkte Lachen, das Ja zum Leben und vor allem zur Liebe sagte.
Nachdem er den Segen gesprochen und die frisch Vermählten in die eisige Kälte entlassen hatte, schweifte sein Blick über den verschneiten Garten, auf dem am frühen Morgen der Tote gefunden worden war. Keine einzige Spur von dem erfrorenen Obdachlosen war mehr zu entdecken. Nur Ebeling und sein Kirchenvogt Vahldieck dachten für einen Moment an die gespenstische Szene im winterlichen Morgengrauen.
Dann drehte Vahldieck die Heizung wieder ab. Bis zum folgenden Sonntag würde die Kirche unbenutzt bleiben und deshalb auch wieder verschlossen, was Pfarrer Ebeling missfiel.
Er ging zu seinem Haus hinunter und überlegte, ob er Cora anrufen sollte. Aus irgendeinem, ihm nicht ersichtlichen Grunde verwarf er den Gedanken jedoch schnell wieder.
Ebeling traute sich gar nicht mehr, in den Spiegel zu schauen. Wenn er die wenigen grauen Haare auf seinem Kopf betrachtete und die ziemlich rundliche Figur darunter, befielen ihn stets Zweifel, was die hübsche Staatsanwältin so attraktiv an ihm fand. Vielleicht rief er deshalb nicht bei ihr an, weil ihn die Angst plagte, dass sie ihn eines Tages mit offenen Augen betrachtete und ohne den Mantel der Verliebtheit ihren Gefallen an seinem welken Gesicht verlöre.
Am nächsten Tag flatterte der Staatsanwältin der Obduktionsbericht auf den Tisch. Der vermutlich obdachlose Mann, der vor der Tür der Kirche ihres Freundes den Tod gefunden hatte, starb ohne Fremdeinwirkung. Er war erfroren. Es gab auch keine Hinweise darauf, dass ihn jemand tot vor die Kirche gezerrt und da abgelegt hatte. Den Weg dorthin musste der volltrunkene Mann in der Hoffnung, im Kirchengebäude Unterschlupf und Schutz vor der Kälte zu finden, allein zurückgelegt haben. Sein Alkoholgehalt im Blut belief sich auf 3,4 Promille. Cora Dennigsen gab nun ein Polizeifoto, das den Toten zeigte, an Fernsehen, Presse und soziale Medien mit der Frage weiter, ob jemand den Mann kenne. Seine Akte konnte sie definitiv schließen. Falls die Staatsanwältin Glück haben und sich jemand auf ihre Anfrage mit einem Hinweis melden sollte, könnte sie nachträglich seinen Namen den Akten hinzufügen. Ansonsten bliebe er einer von den namenlosen Toten dieser Welt.
Читать дальше