Über den Besuch des Pfarrers schien die alte Dame sehr erfreut und Ebeling fragte sich, warum er erst jetzt den Weg zu ihr gefunden hatte. Irgendwie hätte es doch zu seiner beruflichen Pflicht gehört, viel öfter einmal bei ihr vorbeizuschauen als nur zu runden Geburtstagen.
Viele Fenster waren abgedunkelt und ein unangenehmer Geruch stach dem Besucher in die Nase, der sich durch das gesamte Haus zog. Zweifellos lüftete Frau Ziegler nicht mehr in der angemessenen Weise.
Jörg Ebeling entschied sich für Tee, als sie ihn fragte, was er trinken wollte und vor die Alternative Tee oder Kaffee stellte. Hätte er geahnt, dass sie ihm Pfefferminztee servieren würde, wäre seine Wahl auf Kaffee gefallen. Pfefferminztee war so ziemlich die einzige Sorte, die er nicht mochte. In Kindertagen hatte er ihn trinken müssen, wenn er krank gewesen war und sich den Magen verdorben hatte. Aber er zwängte ihn in sich hinein.
Helga Ziegler war neugierig geworden, warum der Pfarrer sie besuchen wollte und es so dringend gemacht hatte.
»Dienstagmorgen ist doch ein Obdachloser vor unserer Kirche erfroren. Er hatte keinen Pass bei sich. Nur ein altes Foto mit einem jungen Mädchen darauf. Ich habe es mit Konfirmandenfotos aus den Siebzigerjahren verglichen und dadurch herausgefunden, dass es sich bei diesem Mädchen um Gabriele Börner handelt. Mittels unseres Taufregisters habe ich dann gesehen, dass Sie seinerzeit die Taufpatin waren.«
»Das liegt mehr als ein halbes Jahrhundert zurück. Im Mai 1960 fand die Taufe in unserer Dorfkirche statt. Aber wie kommt der Tote zu dem Bild mit meinem Patenkind darauf?«
»Das eben weiß ich nicht. Die Staatsanwältin hat ein Foto des Toten an die Zeitungen gegeben. Doch es hat sich niemand gemeldet, der ihn gekannt haben will. Ich würde schon gerne wissen, wer dieser Mann gewesen ist und warum er sich meine Kirche zum Sterben ausgesucht hat. Vielleicht gelingt mir das über Ihr Patenkind. Lebt es noch?«
»Ja natürlich. Gaby Schmuck, wie sie jetzt heißt, wohnt in Braunlage. Sie arbeitet dort als Schreibkraft in einer Rechtsanwaltspraxis. Eine Sozietät. Zu mehr hat es bei ihr nicht gereicht. Und wenn ihr Vater nicht dafür gesorgt hätte, dass Doktor Schmuck seine Tochter ehelichte, dann wäre gar nichts aus ihr geworden. So konnte sie wenigstens auf dem Standesamt promovieren. Durchs Abitur ist sie durchgefallen, obwohl sie die besten Voraussetzungen mitgebracht hat. Beide Elternteile hatten Abitur. Aber die Gaby hat ihren Eltern nichts als Kummer gemacht. Ein Enfant terrible. Ihre Mutter ist aus Kummer darüber sehr früh gestorben. Danach hat ihr Vater sie mit dem Arzt zusammengebracht. Sonst wäre sie verloren gewesen und es wäre gar nichts aus ihr geworden.«
»Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?«
»Das ist schon sehr lange her. Jahrzehnte. Sie hat damals den Kontakt auch zu mir abgebrochen. Ein undankbares Gör in jeder Hinsicht. Schon in jungen Jahren hatte sie nur Kerle im Kopf. Manche Mädchen gehen aufs Ganze, wenn die Muschi zu jucken anfängt. Gaby war eine davon.«
Donnerwetter! So einen Satz hätte Ebeling aus dem Mund der alten Dame nicht vermutet. In ihrem Gesicht fand er einen Ausdruck von Hass und Abscheu. Ihre Freundlichkeit, für die sie so bekannt war, hatte sich vollends verabschiedet.
»Und Sie kennen den Toten vor unserer Kirche auch nicht?«
»Nein, Herr Pfarrer. Ich habe sein Bild in der Zeitung gesehen. Wenn der Mann ein Foto von Gaby in seiner Tasche oder wo auch immer hatte, dann hat es sich vielleicht um einen ihrer Jugendfreunde gehandelt. Dann haben Sie jetzt eine Vorstellung davon, mit was für Gesindel sich Gaby eingelassen hat und warum ihre Mutter vor lauter Kummer so früh von uns gegangen ist.«
Ein Jugendfreund! Eine Möglichkeit. Nicht ganz unwahrscheinlich.
»Es ist besser so, dass sich diese Rotzgöre nie wieder bei mir gemeldet hat. Sie soll bleiben, wo der Pfeffer wächst.«
Mit wem hatte denn Ebeling seinerzeit das Trauergespräch geführt, als der alte Börner beerdigt werden sollte? War da nicht eine jüngere Frau? Handelte es sich dabei nicht möglicherweise um dessen Tochter?
»War Frau Schmuck bei der Beerdigung ihres Vaters?«
»Das wäre ja wohl noch schöner, wenn sie nicht einmal das hinbekommen hätte! Zuzutrauen wäre es ihr gewesen. Aber ihr Mann, der Arzt, nicht sie, wird dafür gesorgt haben, dass der alte Herr anständig unter die Erde gekommen ist.«
»Dann kenne ich Gaby Schmuck. Mit mir hat sie das Gespräch geführt, auf dessen Inhalt ich die Trauerrede aufgebaut habe. Jetzt erinnere ich mich wieder. Es ist ein Mann dabei gewesen. Ihr Mann. Ein Arzt. Ganz genau.«
»Der Penner, der vor unserer schönen Dorfkirche verreckt ist, ist es nicht wert, dass man sich um ihn unnütze Gedanken macht. Glauben Sie mir, Herr Pfarrer!«, sagte sie unmissverständlich in einer unversöhnlichen Tonlage. Woher kam diese Hartherzigkeit? Offensichtlich musste Ebeling einen ganz wunden Punkt getroffen und thematisiert haben.
»Vielleicht haben Sie recht. Es tut mir leid, dass ich Ihre Zeit so sehr in Anspruch genommen habe«, sagte der Pfarrer daraufhin freundlich lächelnd.
»Aber das haben Sie ja gar nicht. Ist doch normal, dass Sie sich Gedanken machen und Antworten suchen. Schauen Sie bald mal wieder vorbei!«
Jörg Ebeling ging durch die verschneiten Straßen von Leuterspring zu seinem Haus zurück. In Gedanken hing er den Worten der alten Dame nach. So hatte er sie bislang noch nicht kennengelernt. Diese Bitterkeit, die lückenlos aus ihr sprach, hätte er bei der sonst so leutseligen Frau nicht vermutet. Es stieß ihn innerlich ab. Das alles stand seinen Predigten über Nächstenliebe und Vergebung diametral gegenüber. Sie saß im Gottesdienst und hörte ihm zu. Verstanden haben konnte sie ihn nicht. Er glaubte, eine Scheinheiligkeit entlarvt zu haben.
Sein Haus war menschenleer, als er es betrat. Wohin sich seine Frau schon wieder verkrümelt hatte, war ihm ein Rätsel. Jedenfalls war sie nicht da.
Schnurstracks marschierte Ebeling in sein Arbeitszimmer und fuhr den Computer hoch. Dann steckte er einen Stick in das Gerät und rief seine Trauerpredigten auf. Ziemlich schnell fand er jene, die er bei der Beerdigung vom alten Börner vor über zehn Jahren gehalten hatte. Er begann zu lesen:
Liebe Trauergemeinde,
wir sind heute hier zusammengekommen, um Abschied von Benno Börner zu nehmen. Er wurde am 5. Juni 1928 in Königsberg geboren. Seine Kindheit spielte sich im paradiesischen Ostpreußen ab, wo er die Schule besuchte und unbeschwerte Jahre im Kreise seiner Eltern verbrachte. Der Krieg klopfte erst ziemlich gegen Ende an die Pforten des fernen Ostpreußen.
Dann aber änderte sich das Leben des 17-jährigen Benno schlagartig. Kindheit und Jugend endeten am 27. Januar 1945, als die gesamte Familie von eben auf jetzt die Flucht über die zugefrorene Ostsee gen Westen antreten musste. Mutter und Sohn überlebten als Einzige den Todesmarsch und standen mittellos im zerbombten Deutschland.
Doch hier ging es nach all den Entbehrungen mit Benno wieder bergauf. Er holte sein Abitur nach und begann eine Ausbildung als Autoschlosser. Später studierte er Maschinenbau und lernte dabei seine große Liebe Annegret kennen. Sie zogen in die dörfliche Idylle von Leuterspring. 1957 heirateten die beiden und drei Jahre später wurde Tochter Gabriele geboren. Was für Benno Ostpreußen in jungen Jahren gewesen war, das wurde für die einzige Tochter Leuterspring.
1979 verstarb Ehefrau Annegret überraschend. Nun war Benno ganz auf sich allein gestellt, denn schon bald trat auch Tochter Gaby in den Stand der Ehe mit dem Arzt Doktor Schmuck ein.
Читать дальше