JOSEPH DE WECK
Der revolutionäre Präsident
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1. Auflage, 2021
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Art Direction: Paul Finn, Fitzroy & Finn
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Umschlaggestaltung: BASICS09
unter Verwendung eines Fotos von Gonzalo Fuentes © Reuters
Satz: Thorsten Kirchhoff
ISBN 978-3-942377-21-8
eISBN 978-3-942377-22-5
Für Verena
Am Abend des 14. Juli ereignete sich das Feuerwerk. … Bunte, knallende Raketen gebar der Horizont. Auf den Schultern der Väter jubelten die Kinder. Diese Kinder, die niemals aufhören werden, Republikaner zu sein, auch, wenn sie einmal Opfer der Politik werden müssten. Denn sie haben in einem Alter, in dem ein Feuerwerk erhaben erscheint, den fernen, aber verwandten Glanz einer Flamme gesehen, die: Revolution heißt!
— JOSEPH ROTH
Vorwort
1 WER IST EMMANUEL MACRON?
Die Romanfigur— Der Grenzgänger— Der Hegelianer— Der Unfehlbare
2 ZWEIFEL UND VERZWEIFLUNG IN FRANKREICH
Der 21. April— Permanenter Ausnahmezustand— Candide oder der Optimismus
3 MACRONS THEORIE DER MACHT
Rückkehr der Autorität— La doctrine Macron— Die Technokratie-Demokratie— Königswahl— Der Geschichtenerzähler
4 MACRONS DRITTER WEG
Kein Gerhard Schröder— Steuerakrobatik— Meritokratische Revolution— Les Misérables— Aufstand der Gelbwesten— Unbeirrbar— Coronavirus-Etatist— Der neue Kapitalismus— Inkohärent wie das Leben
5 VOM MARKTEUROPA ZUM MACHTEUROPA
Die Vision— Gemischte Bilanzen— Realismus und Gaullismus— Der europäische Identitätspolitiker— Je diskreter, desto erfolgreicher
6 SCHICKSALSWAHL 2022
Links liegen gelassen— Der reaktionäre Aufklärer— Zerreißprobe für die Republik— Die Wiederwahl in Reichweite
Danksagung
Anmerkungen und Quellen
«Die Franzosen wollen mit Träumen regiert werden», sagte Napoleon Bonaparte einmal über seine Landsleute. Und es stimmt, Frankreich ist eine Nation, die an Träume glaubt. Liberté, Égalité, Fraternité , das ist das idealistische Versprechen, das Vermächtnis der Französischen Revolution von 1789 und der Aufklärung. Die drei Wörter stehen über der Eingangstür jeder Schule im Land. Aufgabe der Politik ist es, das einzulösen, diesem republikanischen Dreiklang gerecht zu werden — und zwar auch, um der Welt als Vorbild zu dienen. Ein hoher Anspruch, zumal wenn Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit immerzu im Widerstreit stehen.
Die träumerische ist zugleich eine frustrierte Nation. Unablässig folgen Politik-Skandale auf Sex-Affären, Streiks auf Terroranschläge. Immer wieder flammen gewalttätige Protestbewegungen auf. Ein sehr freigiebiger und zugleich sehr repressiver Staatsapparat wahrt den sozialen Waffenstillstand — er verwaltet die politische und wirtschaftliche Stagnation. Lange vor der Coronavirus-Pandemie trat das Land in einen permanenten Ausnahmezustand, mental und real.
In der Psychologie gelten Idealisten mit hohem Anspruch an sich selbst als anfällig für Lebenskrisen. Öffnet sich eine Kluft zwischen Realität und Erwartungen, bauen sich innere Spannungen auf. Dann schwindet das Selbstvertrauen, es weicht der Niedergeschlagenheit. Zwischen Traum und Trauma: Aus diesem Stoff macht man gute Romane. Ungleich schwieriger, daraus gute Politikgeschichte zu schreiben. Michel Houellebecq, der erfolgreichste, aber auch der pessimistischste französische Schriftsteller, befindet nüchtern: «Frankreich hat ein Talent zur Depression.» Um nicht ohne Ironie anzufügen: «Ich ähnele Frankreich.» 1
Frankreich wirkt stets gefährdet, am Rand der (Selbst-)Überforde-rung. Das weckt Ängste, durchaus auch in Deutschland. Berlin sorgt sich, dass der wichtigste europäische Partner irgendwann abhandenkommen könnte. Was, wenn jenseits des Rheins die Frustration überhandnimmt: wenn die Mehrheit der Französinnen und Franzosen aus Politikverdrossenheit bis hin zur Verzweiflung die Rechtspopulistin Marine Le Pen in den Élysée-Palast wählt? Das Houellebecq’sche Traumszenario eines Austritts Frankreichs aus der Europäischen Union ist vielleicht mehr als eine Romanfantasie.
Doch Frankreich ähnelt nicht einzig Houellebecq. Es erkennt sich auch in einem anderen, ebenso leidenschaftlichen Kritiker der Verhältnisse: Emmanuel Macron.
Im Präsidentschaftswahlkampf 2017 rief Macron die Franzosen auf, ihre Träume nicht preiszugeben. «Denen, die an nichts mehr glauben — den Zynikern, Defätisten und Niedergangs-Propheten ringsum —, sagen wir: Das Beste liegt vor uns!» Es ist einer der Schlüsselsätze zum Verständnis des Rätsels Macron, vorgetragen in einem Lyoner Sportstadium. 2
Er hatte — und hat noch heute — einen glaubwürdigen Plan: Frankreichs Wirtschaft dem Wettbewerb zu öffnen und im Gegenzug Europa nach außen zu stärken, auf dass die EU mit aller Macht die Unternehmen, die Menschen und die europäische Identität schütze. Aus dem «Markteuropa» soll ein «Machteuropa» werden. Denn ein bloßer Markt kann weder die Wohlfahrt der Europäerinnen und Europäer noch ihr Vertrauen in die Demokratie sichern.
Aus dem Stand heraus und geradewegs durch die neue Mitte überflügelte Monsieur «Weder-links-noch-rechts» die Bewerber aller etablierten Parteien. Sein Appell an den Mut zur Hoffnung, der in den Franzosen schlummert genau wie die Lust am Pessimismus, brachte ihn in Frankreich an die Macht und in Europa ins Scheinwerferlicht. Am Tag seines Amtsantritts als der achte Präsident der Fünften Republik sagte er: «Frankreich hat entschieden, der Aufklärung nicht den Rücken zu kehren, sondern sich der Zukunft zuzuwenden.»
Was ist wirklich neu an der politischen Philosophie des Mannes, der eine Politik jenseits aller Lager predigt und die heutige Debatte als eine Auseinandersetzung zwischen reaktionären Nationalisten und progressiven Europäern zu ordnen versucht? Wie erklärt sich, dass Macron die Republik durch den globalen Kapitalismus, den islamistischen Terror und die neue Identitätspolitik amerikanischer Prägung zugleich gefährdet sieht? Welche Politik verfolgt Macron, seit er im Machtzentrum angekommen ist? Hat er Frankreich revolutioniert und Europa neu gegründet, wie er es als Kandidat gelobte? Und die Präsidentschaftswahl im April 2022 wirft die Kernfrage auf: Träumen die Franzosen Macrons Traum?
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WER IST EMMANUEL MACRON?
Man verbringt sein Leben damit, Beweggründe zu romantisieren und Sachverhalte zu vereinfachen .
— BORIS VIAN
Frankreichs Karikaturisten tun sich schwer mit Emmanuel Macron. Jacques Chirac war der hünenhafte Bonvivant. Nicolas Sarkozy der ordinäre Kleine, der sich aufplustern muss. François Hollande der lüsterne, schwabbelige Angsthase. Doch was genau soll man an Macron überzeichnen?
Er ist weder groß noch klein. Der Nordfranzose misst einen Zentimeter weniger als der Durchschnitt, nämlich 1,73 Meter. Schmächtig, aber nicht zu übersehen. Eine gewisse Eleganz, wiewohl mit Zahnlücke. Ein Mann, mehr Kopf als Körper. Mit der schmalen Krawatte und dem noch enger geschnittenen Anzug gleicht er auf frappierende Weise Boris Vian, dem Chansonnier und Kultautor der 1950er Jahre. «Was kümmert es mich, ob ich hässlich oder hübsch bin. Es kommt einzig darauf an, den Leuten zu gefallen, die mich interessieren», schrieb Vian.
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