Ein anderer Theorieansatz bringt das anagrammatische Lesen in Bewegung. Die Art von historischer Diskursanalyse, wie sie FoucaultFoucault, Michel in den beiden Vorträgen Was ist ein Autor?Was ist ein Autor? (1969) und Die Ordnung des DiskursesDie Ordnung des Diskurses (1970) skizziert, „enthüllt nicht die Universalität eines Sinnes, sondern sie bringt das Spiel der […] aufgezwungenen Knappheit an den Tag“231, worunter Foucault die Reduktion auf einen SinnSinn oder auf wenige verbindliche Sinnauslegungen versteht. Er spricht in diesem Zusammenhang kritisch von der Monarchie des Signifikanten, der man sich verweigern müsse. Dieser Aufruf zum hermeneutischen Jakobinismus, der Zweifel am Absolutismus der Textdeutung hegt, hat bis heute nichts von seinem Charme verloren. Dieser Zweifel ist Voraussetzung für Textarbeit. Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich beispielsweise ist ein solcher Zweifler, unendlich und unabschließbar seien die DeutungenDeutung, Unendlichkeit also das Geschäft des PhilologenPhilologie, die Frage nach der intentio operis sei, im Gegensatz zur Frage nach dem Autorwillen, unerschöpflich.232 Gilt also das Interesse der Philologie dem Werk, so ist ihr Geschäft unabschließbar. Man kann dies zuspitzen, der Autor als Subjekt muss den Philologen nicht interessieren. Diese Arbeit überlassen wir den Biografisten. Das scheint BarthesBarthes, Roland gemeint zu haben, als er schrieb: „ganz verloren mitten im Text (nicht hinter ihm wie ein Deus ex machina) ist immer der andere, der Autor“, und ergänzend oder vielmehr metaphorisch überspitzt er: „Als Institution ist der Autor tot: als juristische, leidenschaftliche, biographische Person ist er verschwunden“.233 Und schon gar nicht darf dem Werk ein Subjektstatus verliehen werden, da dies eben jenen Abweichungscharakter von Texten auslöscht. Viel eher muss die Fragestellung umgekehrt werden: Weshalb interessieren wir uns so stark für eine, weshalb verbeißen wir uns regelrecht in eine Textsinnsuche, weshalb bedürfen wir eines Subjekt gewordenen Textes? Der Verdacht drängt sich auf, dass dieser Subjektsuche die Projektion eines Wahrheitswillens zugrunde liegt. Erschöpft sich die Bedeutung des Textes also nur in einer philologischen Erlösungsfantasie? FoucaultFoucault, Michel spricht in der Ordnung des DiskursesOrdnung des Diskurses vom „großen unaufhörlichen und ordnungslosen Rauschen des Diskurses“, er nennt es auch „das große Wuchern“.234 Was aber ist das Andere des Diskurses, welches das Rauschen bricht, es überhaupt erst vernehmbar macht? Das Andere des Rauschens ist der TextText. Anagrammatisches Lesen transformiert dieses Rauschen in SchriftSchrift. Und wieder sei die Literatur bemüht, die diesen Zusammenhang aufs Neue aufdeckt. Bei HerderHerder, Johann Gottfried liest man: „Es ist fast unvermeidlich, daß eben das Höhere, Weitverbreitete unsres Jahrhunderts auch Zweideutigkeiten der besten und schlimmsten Handlungen geben muß, die bei engern, tiefern Sphären wegfielen. Eben daß niemand fast mehr weiß, wozu er würkt: das Ganze ist ein Meer, wo Wellen und Wogen, die wohin? aber wie gewaltsam! rauschen – weiß ich, wohin ich mit meiner kleinen Woge komme?“235 Thomas MannMann, Thomas schreibt im Schlusssatz seiner Erzählung Schwere StundeSchwere Stunde (1905): „Und aus seiner Seele, aus Musik und Idee, rangen sich neue Werke hervor, klingende und schimmernde Gebilde, die in heiliger Form die unendliche Heimat wunderbar ahnen ließen, wie in der Muschel das Meer saust, dem sie entfischt ist“236. Und George BatailleBataille, George hat in der Erzählung Madame EdwardaMadame Edwarda seines Obszönen WerksObszönes Werk (dt. 1972) exakt den Zusammenhang zwischen Textbegehren und Körperbegehren beschrieben, wenn man das Rauschen in der Muschel als ein Echo des BegehrensBegehren lesen will: „Schließlich kniete ich nieder, ich schwankte, und ich legte meine Lippen auf die lebendige Wunde. Ihr nackter Schenkel liebkoste mein Ohr: mir war, als hörte ich das Rauschen einer Meereswoge, das gleiche Geräusch, das man vernimmt, wenn man das Ohr an eine große Muschel legt“237. Natürlich ist dies alles ein metonymisches Sprechen, da es ja nach den zuvor gemachten Einschränkungen nicht mit Prädikationen heißen kann ‚der Text ist …‘ oder ‚der Diskurs ist …‘. Doch es bleibt schwierig, einer Substanzialisierung des Text- und Diskursbegriffs zu entgehen. Vielleicht sollten wir es mit Friedrich SchlegelsSchlegel, Friedrich LucindeLucinde (1799) halten: „Lieber erst den Diskurs, und hernach die Götter“238. Was die LiteraturLiteratur längst schon vollzogen hat, beginnend mit den großen Dichtern der frühen klassischen ModerneModerne von MallarméMallarmé, Stéphane, über BennBenn, Gottfried bis hin in unsere Tage zu Friederike MayröckerMayröcker, Friederike und Ernst JandlJandl, Ernst, das mangelt der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft, nämlich die Abkehr vom Sinnverständnis, der Verzicht auf ein Gefangensein und Befangensein im Sinndenken. Wer wollte beispielsweise angesichts von Kurt SchwittersSchwitters, Kurt UrsonateUrsonate (1932) noch von SinnSinn reden? Dieser Text ist nicht unsinnig, nicht sinnlos, sondern sinnfrei. AnagrammatischesAnagrammatik LesenLesen lässt die Einsicht zu, dass Literatur nicht meint, was sie ist, sie spielt mit, nein sie lebt nachgerade von der Abweichung. Über diese Erkenntnis konstituiert sich das, was wir auf einer anderen Diskursebene die Fiktionalität der Texte nennen.
Digressives Lesen ist eine notwendige Voraussetzung für anagrammatisches Lesen. Denn ein TextText ist das Produkt dessen, wovon er abweicht, was er nicht enthält, was er verschweigt, was er in die Peripherie drängt, was er der Verschiebung unterwirft. Wir sprechen gerne davon, ‚auf den Text selbst zurückzukommen‘. Das aber heißt, auf das zurückzukommen, was im Text als Abwesenheit markiert ist. Und diese Rückkehr zum Text ist kein geschichtlicher Zusatz, sondern verändert den Text notwendigerweise. Der Ort der Sinnproduktion ist im herkömmlichen philologischen Verständnis das schreibende Subjekt. Anagrammatisches Lesen kehrt dies um, demnach ist das Subjekt eine Metapher für die Abwesenheit von Sinn, kunstvoll camoufliert als Sinnschöpfungsinstanz. Das anagrammatische Lesen verzichtet auf die Operation einer Subjektwerdung des Textes, denn gerade hierin erweist sich die grundlegende Differenz zwischen fiktionalen Texten und den Diskursen der abendländischen Philosophie. Es geht keineswegs darum, die Instanz eines schöpferischen Individuums von Texten infrage zu stellen. Selbst wenn DerridaDerrida, Jacques in seinem Buch Die Schrift und die DifferenzDie Schrift und die Differenz (1967) schreibt, „das ‚Subjekt‘ der Schrift existiert nicht, versteht man darunter irgendeine souveräne Einsamkeit des Schriftstellers“239, so bedeutet das nicht, dass er oder andere Theoretiker die Existenz der schreibenden Hand leugneten. Sondern, um in diesem Bild zu bleiben, die Hand, welche schreibt, wird stets geschrieben von einer Hand, die schreibt. Maurits Cornelis EscherEscher, Maurits Cornelis hat dieses Paradoxon in einer Lithografie mit dem Titel Zeichnende HändeZeichnende Hände (1948) bildlich exakt dargestellt.
Eines der eindrucksvollsten Textzeugnisse über die Bedeutung des Wortes findet sich am Beginn des Johannes-EvangeliumsJohannes-Evangelium . Die Parallele zur alttestamentlichen Schöpfungsgeschichte des Beginnens als Wortschöpfung unterstreicht die Bedeutung der Arbeit am Wort: en archä än ho logos – in den Anfang eingegraben, nicht am Anfang, war das Wort, sondern im Anfang, der gewiefte Diskursanalytiker sagt nun: im Anfang war die Rede. Im Anfang war die Rede, und es war nicht die Rede vom SinnSinn. Gefangen im Käfig der Sinnsuche drapieren wir die Wände unseres engen Raums mit Phantasmen der Großwildjagd; Freiheit, Abenteuer, Wildnis – so sehen wir die Texte, die gefangen, gebändigt und verstanden gehören, schlimmstenfalls erlegt, und wir setzen in imperialer Geste den Fuß auf unsere Jagdtrophäe, lassen uns abbilden und nennen das Ganze Interpretation. Und dabei ist InterpretationInterpretation nichts anderes, als, wie Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich sagte, Kritik des Sinns,240 und Kritik bedeutet für ihn „[…] einen Autor besser verstehn als er sich selbst verstanden hat“241. Diese Ansicht hat eine lange Tradition. HerderHerder, Johann Gottfried meint 1778: „Das Leben eines Autors ist der beste Commentar seiner Schriften“242. Und HamannHamann, Johann Georg schreibt in seiner Aesthetica in nuceAesthetica in nuce (1762): „Der Autor ist der beste Ausleger seiner Worte“243. AnagrammatischesAnagrammatik LesenLesen kehrt diese Perspektive um. Es verzichtet auf den Superlativ eines besten VerstehensVerstehen, eines besten Kommentars und eines besten Auslegers und setzt stattdessen das Zweifeln, das dem Erstaunen entspringt, ins Recht. Der Zweifel an der Autorität des Autors wurde und wird stets verstanden als Zweifel an der Autorität der PhilologiePhilologie als Wissenschaft, die diese Wissenschaft aber gar nicht benötigt.
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