Wenn nun alles Zeichen ist und der Mensch als symbolischesSymbol Wesen begriffen wird, so wäre die Ausweitung der Semiotik zu einer KultursemiotikKultursemiotik nur schlüssig.21 Demgegenüber behauptet eine POETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEITPOETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEIT die Unabhängigkeit der Offenheit von kontingenten historischen oder poetologischen Normen. Jedes Kunstwerk wird erst im Akt der Wahrnehmung, dem Zustand der ästhetischen Erfahrung, als Kunstwerk realisiert. Die mittelalterliche Theorie der AllegoreseAllegorese, wonach die InterpretationInterpretation biblischer Texte (und mutatis mutandis der Literatur und der bildenden Kunst) stets die DeutungDeutung im Hinblick auf den buchstäblichenbuchstäblich SinnSinn, den allegorischenallegorisch Sinn, den moralischen Sinn und den anagogischen Sinn verfolgt, unterliege einer begrenzten und streng definierten Offenheit. Viel zitiert ist in diesem Zusammenhang jene Textstelle aus dem zwischen 1316 und 1320 entstandenen Schreiben an Cangrande della ScalaSchreiben an Cangrande della Scala des Dante AlighieriAlighieri, Dante (1265–1321), wo er im 20. Abschnitt über seine Divina commedia (1307/1321) darlegt:
„Zur Verdeutlichung des zu Sagenden muß man deshalb wissen, daß dieses Werk nicht eine einfache Bedeutung hat, vielmehr kann es polysem genannt werden, das heißt mehrdeutig. Denn die erste Bedeutung ist jene, die es durch den Buchstaben hat, die andere ist jene, die es durch das vom Buchstaben Bezeichnete hat. Und die erste wird die buchstäbliche genannt, die zweite aber die allegorische oder moralische“22.
Dante weist auf die etymologische Herkunft und Bedeutung des Wortes AllegorieAllegorie hin, das im Griechischen und Lateinischen Anderes oder Verschiedenes bedeute und verweist damit auf den Bedeutungshorizont der Anders-Rede.23 EcoEco, Umberto betont nun, die Rezipienten könnten lediglich zwischen jenen vier Textsinnebenen wählen. Damit würden sich die vier Lesemöglichkeiten eines mittelalterlichenMittelalter und frühneuzeitlichenFrühe Neuzeit, allegorischen, geschlossenen Kunstwerks von den zahlreichen möglichen Interpretationen eines modernen, offenen Kunstwerks unterscheiden. Historisch ist dies exakt argumentiert, aber wenn man jenseits einer historisierenden Deutung die grundsätzliche BedeutungsoffenheitBedeutungsoffenheit eines Kunstwerks annimmt, verliert Ecos Aussage an Stichhaltigkeit.
EcoEco, Umberto bringt nun den literarischen SymbolismusSymbolismus ins Spiel, der erstmals eine bewusste Form einer Poetik des offenen Kunstwerks in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt habe. Als Beispiel wählt er das Gedicht Art PoétiqueArt Poétique (1882) von Paul VerlaineVerlaine, Paul (1844–1896). Stéphane MallarméMallarmé, Stéphane (1842–1898) ginge noch radikaler vor, seine Poetik lasse sich in einem Satz zusammenfassen: „ Es muß vermieden werden, daß ein einziger SinnSinn sich aufdrängt “24, dies generiere eine Poetik des Andeutens. Ein Großteil der modernenModerne LiteraturLiteratur beruhe, so führt Eco weiter aus, auf dem Gebrauch des SymbolsSymbol und er nennt – neben James JoyceJoyce, James und dessen UlyssesUlysses -Roman – als Beispiel Franz KafkasKafka, Franz Werk. „Im Unterschied zu den allegorischen Konstruktionen des Mittelalters [sind] die mitschwingenden Bedeutungen hier nicht in eindeutiger Weise vorgegeben“25. Verwandlung, Verurteilung, Schloss und Prozess gehören bei Kafka als Generalsymbole dazu. An dieser Stelle greift Eco auf den Begriff der Ambiguität zurück und grenzt nun die Kategorie der Offenheit entscheidend ein. Er übernimmt den Begriff der perzeptiven Ambiguität aus Psychologie und Philosophie.26 Der Mangel dieses Begriffsgebrauchs liegt aber darin, dass er in der Regel die Doppeldeutbarkeit eines Textes meint, nicht aber die Bedeutungsoffenheit. Galt diese bislang dem Kunstwerk schlechthin, so wird sie nun zum Signum des ausschließlich modernen Kunstwerks, das die aktive Mitarbeit der Rezipierenden bedingt. Offenheit charakterisiert die Gegenstandsseite der rezeptiven Erfahrungsseite des deutenden Subjekts.
Ecos Bemühen, das offene Kunstwerk weiter einzugrenzen und den Term Kunstwerk in Bewegung einzuführen kann hier vernachlässigt werden. Denn legt man seine strengen Definitionen von Permutation und Kombinatorik als Maßstab zugrunde, so trifft dieser Begriff des Kunstwerks in Bewegung nur auf einen sehr kleinen Kreis ausgewählter, experimenteller Literatur zu. An anderer Stelle habe ich diese Art von Literatur die aleatorische Literaturaleatorische Literatur genannt und an Beispielen nicht nur aus der deutschen LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte ausgeführt.27 Die populärsten Beispiele sind sicherlich Andreas OkopenkosOkopenko, Andreas Lexikon einer sentimentalen Reise zum Exporteurtreffen in Druden RomanLexikon einer sentimentalen Reise zum Exporteurtreffen in Druden Roman (1970) und die Hunderttausend Milliarden GedichteHunderttausend Milliarden Gedichte (1961) in Lamellenform als kombinatorisches Ergebnis der zugrunde liegenden zehn Sonette von Raymond QueneauQueneau, Raymond in der Übersetzung von Ludwig HarigHarig, Ludwig aus dem Jahr 1984.
Die Poetik des Kunstwerks in Bewegung (und damit teils die Poetik des offenen Kunstwerks) schaffe völlig neue „praktische Probleme dadurch, daß sie kommunikative Situationen und eine neue Beziehung zwischen Betrachtung und Verwendung des Kunstwerks“28 generiere. Allerdings ist, das lässt sich kritisch einwenden, die Funktionalität und die Funktionalisierbarkeit eines Kunstwerks etwas völlig anderes als seine BedeutungsoffenheitBedeutungsoffenheit. Außerdem kann dem entgegengehalten werden, dass eine POETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEITPOETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEIT benötigt wird und möglicherweise geht diese Poetik – und vieles deutet darauf hin, wenn man sich die Entwicklung moderner Formen von Kompositionen, Bildern, Skulpturen, Texten vor Augen führt – in eine ÄsthetikÄsthetik der Bedeutungsoffenheit über. Wenn man noch einmal einen textualistischen KulturbegriffKulturbegriff bemühen will, so kann man auch von einer Textur der Bedeutungsoffenheit sprechen, die demnach auch Handlungen etc. miteinschließt und ihren performativen Charakter betont.
EcoEco, Umberto unterscheidet zwischen dem freien Gebrauch eines Textes und dessen InterpretationInterpretation. Aus Sicht des Semiotikers ist ein Text „nichts anderes als die Strategie, die den Bereich seiner […] Interpretationen konstituiert“29. Für diese Begrenzung des Diskursbereichs muss man aber einen Gestaltungswillen annehmen, der ein Autorwille, ein Textwille (möglicherweise gegen den Autorwillen) oder ein Leserwille sein kann, ließe sich einwenden. Eco beschreibt an anderer Stelle das Zusammenwirken von intentio operis und intentio lectoris als ein dialektisches Verhältnis. Im Unterschied zur Leserintention sei es unmöglich genau anzugeben, was eine Textintention meinen könne, da die Intention eines Textes niemals offen zutage liege.30
Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich (1772–1829) bietet in den Heften zur PhilosophieHefte zur Philosophie (1794–1818), Philosophische Fragmente. Zweite Epoche I drei Aphorismen, die eine hermeneutischeHermeneutik Selbstzufriedenheit herausfordern. Nr. 1515 lautet: „Die Frage, was der Verfasser will, läßt sich beendigen, die was das Werk sei, nicht“31, Nr. 1503: „Das Verstehen mit dem Sinn ist ein Aneignen des Keims, ein Empfangen, Wachsen, Blühen. Können alle Früchte auf jedem Boden wachsen? – Mitnichten!“32 Und Nr. 984: „Der Buchstabe jedes Werks ist Poesie , der Geist Philosophie.“33 Das korreliert durchaus mit Schlegels Athenäums-FragmentAthenäums-Fragment Nr. 93: „Die Lehre vom Geist und BuchstabenBuchstaben ist unter andern auch darum so interessant, weil sie die Philosophie mit der Philologie in Berührung setzen kann.“34 Mit der Zeitschrift Athenäum hatten die Brüder August WilhelmSchlegel, August Wilhelm und Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich zusammen mit dem Theologen Friedrich Daniel Ernst SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst (1768–1834) ein Forum für die Diskussion und Verbreitung romantischen Denkens und Schreibens geschaffen. Ihr damit verknüpfter Anspruch war kein geringer. Friedrich Schlegel schreibt am 31. Oktober 1797 an seinen Bruder:
Читать дальше