Der Katharsis-Stelle in der Poetik geht unmittelbar ein weiterer, kulturgeschichtlich gesehen problematischer Begriff voraus, wenn Aristoteles die Tragödie als Nachahmung (MimesisMimesis) von Handlung erklärt. Mit dem Mimesis-Begriff ist das Hoia an genoito verknüpft. Hier liegt der Ursprung des Modalitätenproblems in der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft. In Poetik 1451 a 37 spricht Aristoteles von der Aufgabe der Dichtung, die nicht das zu schildern habe, was ist, sondern das, was sein könnte („hoῑa àn génoito“). Das Verständnis von Mimesis ist in der WirkungsgeschichteWirkungsgeschichte des Begriffs mit der Diskursgeschichte des Möglichkeitsbegriffs verknüpft. In der bedenkenlosen Übersetzungs- und RezeptionsgeschichteRezeptionsgeschichte des Begriffs wurde MimesisMimesis mit Nachahmung wiedergegeben, und die Modalkategorie der Möglichkeit wurde diskreditiert, indem sie in das Reich der Dichtung verbannt und schließlich durch den vermeintlich aussagekräftigeren Begriff der FiktionFiktion ersetzt wurde.46 Man kann durchaus von einer Geschichte des Mimesis-Desasters in Poetik und LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft sprechenPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles), das auf seine Weise aber wieder produktiv und kreativ gewirkt hat. Die Bestimmung der Kunst als Gestaltung wird nicht vom Mimesis-Begriff her gewonnen, und Mimesis bedeutet keineswegs irgendeine Art von „Reproduktion der Wirklichkeit“47. Robert MusilMusil, Robert aktualisierte das Modalitätenproblem aus der aristotelischenAristoteles Poetik , was auch weiterführend als Chance zur Neubelebung der Diskussion modaltheoretischer Probleme in der Literaturwissenschaft insgesamt gesehen werden kann. Schon HorazHoraz nennt den guten Dichter einen „doctum imitatorem“48, einen kundigen Nachahmer. Das ist eine Bestimmung, die, obwohl sie bis heute gebräuchlich geblieben ist, mit dem aristotelischen MimesisMimesis-Begriff nur schwer in Einklang zu bringen ist. Die Wiedergabe von dessen Mimesis-Begriff mit Nachahmung ist inadäquat und führt notwendigerweise zu Fehldeutungen.49 Die altphilologische Forschung konnte zeigen, „daß mίmēsis ‚Nachahmung‘ bedeuten kann , daß das Wort aber im übrigen ein ganz anderes Bedeutungsfeld besitzt als die Ausdrücke ‚Nachahmung‘, ‚imitatio‘. Sein Bedeutungszentrum liegt im Tanz “50. Das Verb zu mίmēsis heißt mimeῑsthai und ist ein ausdruckstheoretischer Begriff mit der „Grundbedeutung ‚tänzerische Darstellung‘ […]. Nur von diesem Ausgangspunkt her ist die Aufspaltung der Bedeutungen in ‚nachahmen‘ und ‚darstellen‘ sprachlich einwandfrei, nicht aber, wenn wir ‚nachahmen‘ zum Ausgangspunkt nehmen“51. Der MimesisMimesis-Begriff der aristotelischenAristoteles Poetik orientiert sich „in aktiver Auseinandersetzung“ an dem alten Mimesis-Begriff, „der seinerseits von der Mimesis des griechischen Tanzes ausgeht“.52 Mit dieser lebendigen Tradition, die bis in die Zeit der Sophistik zurückzudatieren ist, setzt sich Aristoteles auseinander. „Nie ist bei ihm die Dichtung ‚Nachahmung‘“53. Über das „Bedeutungsfeld von mimeῑsthai im vorplatonischen Sprachgebrauch heißt es: „sinnlich-konkrete Äußerungen belebter (bes. menschlicher) ‚Wesen‘ (unter Ausnutzung einer vorhandenen Ähnlichkeit) sinnlich-konkret (für jemanden) erscheinen lassen bzw. wiedergeben“54. Somit kann man vor allem das schöpferische Moment des Mimesis-Begriffs festhalten. Mimesis bedeutet in diesem Sinne das Darstellen und Gestalten von etwas, Mimesis ist gleichermaßen figuratio (Darstellung) und formatio (Gestaltung). Mit Blick auf das Modell POIKAIPOIKAI betreffen PoiesisPoiesis, KatharsisKatharsis und AisthesisAisthesis den Außenbezug von LiteraturLiteratur als den basalen kulturellen Bedingungen der Geschichtlichkeit eines Textes, während Mimesis nur auf den Binnenbezug eines Textes referiert.
In PoetikPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) 1454 b 16 spricht AristotelesAristoteles von den aisthéseis (den „Sinneseindrücken“55), die notwendigerweise mit der Dichtkunst verknüpft seien. Man kann dies folgendermaßen verallgemeinern: Literatur wird sinnlich wahrgenommen, mehr noch, Literatur muss wahrgenommen werden, um überhaupt eine WirkungWirkung entfalten zu können. Wirkung (Katharsis) und Wahrnehmung (Aisthesis) sind miteinander verschränkt. Das Substantiv aísthesis (vgl. Poetik 1451 a 7) taucht im siebten Kapitel auf und wird mit dem „äußeren Eindruck“56 einer Aufführung wiedergegeben, im 16. Kapitel wird das substantivierte Verb von Aisthesis (vgl. Poetik 1454 b 37) mit dem „Anblick“57, also auch der Inszenierung einer Tragödie übersetzt. Die Aisthesis geht damit über die sinnliche Wahrnehmung hinaus, der äußere Eindruck ist die LektüreLektüre der äußeren Textur, die den Zugang zur inneren Textur eröffnet. Ob nun Sinneseindruck, äußerlicher Eindruck oder Anblick die adäquaten Übersetzungsmöglichkeiten darstellen, stets geht es um die Wahrnehmung von LiteraturLiteratur.
Die poíesis ist sicherlich der am weitesten generalisierte Begriff, der aus der aristotelischenAristoteles Poetik übernommen wird. Dort bedeutet er schlicht die Dichtung. Im Modell POIKAIPoiKAi wird er aber in einem allgemeinen Sinn als das Machen von Literatur, als deren Hervorbringung verstanden und schließt die Bedingungen ihrer historischen Wirksamkeit mit ein. Das POIKAI-Modell orientiert sich an einer Theorie des Textus receptusTextus receptus. Der englische Philosoph Francis BaconBacon, Francis spricht in seinem Novum organum scientiarumNovum organum scientiarum (1620) von der „philosophia recepta“58, was mit „den herkömmlichen philosophischen Ansichten“59 übersetzt wird. Das deckt sich nur zum Teil mit dem Wortverständnis von Textus receptus, wie es in der Theologie, genauer in der theologischen Textkritik der Evangelien entwickelt wurde. Dort meint Textus receptus denjenigen Text, dessen Textkonstitution angesichts konkurrierender Handschriften und Drucke als verbindlich gilt. Dem Textus receptus kommt ein autoritativer Status zu, und beginnt mit der Bibelausgabe von 1516 des Erasmus von RotterdamErasmus von Rotterdam. Der Theologe Hermann von SodenSoden, Hermann von bezeichnete die Denkfigur eines Textus receptus, was ja die Textgestalt einer allgemein anerkannten Textkonstitution bedeutet, als „Buchhändlerreklame“60, aus der schließlich ein Dogma gemacht worden wäre, das in einem Epitaphium endete. Für POIKAIPOIKAI ist demgegenüber ausschließlich entscheidend, dass der rezipierte Text wirkt, auch wenn sich die WirkungWirkung als Ergebnis einer auf falscher Textannahme basierenden Fehllektüre herausstellt. Der Wahrnehmung von Literatur geht die Wirkung von Literatur voraus und diese ist wiederum abhängig davon, dass überhaupt etwas geschaffen und Literatur entstanden ist. Poiesis betrifft das Machen von Literatur, KatharsisKatharsis betrifft das Wirken von Literatur und AisthesisAisthesis betrifft das Wahrnehmen von Literatur. So erklärt sich die Verschränkung von Poiesis, Katharsis und Aisthesis im Modell von POIKAIPOIKAI, die zugleich die kulturellen Bedingungen von Literatur bedeuten.
„EXPERIMENTAL philologie “. „Die Kunst der Fuge mit Wörtern“1
„Ich schlage Ihnen deshalb vor, daß wir uns für die kurze Zeit dieses Gesprächs in einem kleinen Winkel der LiteraturtheorieLiteraturtheorie einrichten; außerdem werde ich diesen Punkt subjektiv abhandeln; ich werde im eigenen Namen und nicht von der Position der Wissenschaft aus sprechen, ich werde mich selbst befragen, ich, der ich die Literatur liebe“2. Diese Worte von Roland BarthesBarthes, Roland will ich mir zu eigen machen und im Folgenden Denkanstöße zu einer „EXPERIMENTAL philologieExperimentalphilologie “ geben, um diesen Begriff und die Denkbewegung Friedrich SchlegelsSchlegel, Friedrich aufzugreifen. Er hat in seinen Heften zur Geschichte und PolitikHefte zur Geschichte und Politik als das „eigentliche Problem des Zeitalters“ für „die nächste Epoche (1800–2100)“ „die Wiedergeburth des Wortes “ erkannt.3
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