1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 Tatsächlich gaben sich die Paulianer keineswegs geschlagen, griffen immer wieder aufs Neue an und bedrängten das Tor der Gastgeber. Der Führungstreffer aber hatte den Oldenburgern frischen Mut verliehen. Immer stärker hielten sie dagegen, befreiten sich aus der Umklammerung der körperlich überlegenen Gäste und trugen selbst schnelle Angriffe vor. Auch der lange Georg Zander schaltete sich in die Offensive ein, versuchte mit genauen Pässen, Erich Köhler in Torschussposition zu bringen. Erich wurde ständig von zwei Gegenspielern bewacht, konnte sich aber immer wieder mit schnellen Körpertäuschungen der Bewachung entziehen. Nach 40 Spielminuten war es dann so weit. Zander schlug den Ball von halblinks diagonal in den Strafraum, »Kohle« lief sich blitzartig frei, versetzte einen weiteren Abwehrspieler durch eine geschickte Körperdrehung und schob den Ball zentimetergenau ins lange Eck. Das Freudengebrüll der Zuschauer musste bis nach Eversten zu hören sein, dachte Erhard, der beide Hände auf seine Ohren presste, um nicht taub zu werden.
Es kam sogar noch besser. Unmittelbar vor der Pause versuchte Georg Zander den Diagonalpass von halblinks noch einmal. Wieder verlud Erich Köhler seine Bewacher und schickte sich an, den herauslaufenden Torwart zu umdribbeln. Der aber versuchte gar nicht erst, nach dem Ball zu greifen, sondern packte Erich am Knöchel und brachte ihn zu Fall. Schreie der Wut dröhnten durchs Stadion, wilde Flüche schallten über den Platz, und die Ordner hatten alle Hände voll zu tun, um die aufgebrachtesten Zuschauer daran zu hindern, den Platz zu stürmen. Der Schiedsrichter pfiff Elfmeter, ohne eine Sekunde zu zögern, und so legte sich die Aufregung, auch wenn der unfaire Torwart mit einer Verwarnung davonkam. Erich selbst trat zur Vollstreckung des Strafstoßes an, täuschte den Schlussmann gekonnt und erhöhte auf 3:0. Das Spiel gegen die favorisierten Hamburger war schon zur Pause so gut wie entschieden.
Während die Spieler zu den Umkleideräumen marschierten, trieb sich Erhard am Spielfeldrand herum und lauschte begeisterten Zuschauern, die sich gegenseitig die entscheidenden Szenen der gerade beendeten Spielhälfte in glühenden Farben schilderten, ein ums andere Mal, bis aus den Spielern göttergleiche Übermenschen geworden waren. Natürlich waren es vor allem Erich Köhler und Georg Zander, denen die größte Anerkennung galt. »Der Herrenmensch und sein Schwatter« nannte einer das spielentscheidende Duo und stieß damit auf allgemeine Zustimmung.
»Scheiß-Zigeuner!«, schimpfte unvermittelt eine Stimme direkt neben Erhard. »Dass wir es nötig haben, so einen spielen zu lassen! Man schämt sich direkt, dass so was immer noch möglich ist.«
Zwei Männer, von der Menschenmenge eingekeilt, standen an den Zaun gepresst. Den Sprecher hatte Erhard schon einmal bei einem Jugendspiel gesehen, vermutlich gehörte er zum Verein. Der andere trug eine Uniform, schwarz, mit SS-Runen an den Kragenspiegeln. »Nur keine jüdische Hast«, erwiderte er. »Schritt für Schritt, eins nach dem anderen. Immer mit Blick auf das Ausland. Deutschland ist noch nicht so weit. Aber das kommt schon, nur Geduld.« Sein Blick erfasste Erhard, der stehen geblieben war und die beiden anstarrte. »Was ist los, Bengel?«, schnauzte der Uniformierte. »Weitergehen, aber zackig! Hier werden keine langen Ohren gemacht.« Erhard machte sich davon, mit brennenden Ohrmuscheln und eingezogenem Kopf. »Auch einer von denen, sieht man bloß nicht gleich«, bekam er noch mit, ehe er außer Hörweite war.
Erhard machte, dass er wegkam. Seine Wangen brannten. Zigeuner! Er hasste dieses Wort, er hasste es, so genannt zu werden. Herumziehende Gauner hieß das, was für eine Gemeinheit, das waren sie doch längst nicht mehr. Sein Vater gab sich alle Mühe, genauso deutsch zu sein wie alle anderen um sie herum. Penibel hielten sie sich an die Gesetze, und zu Hause wurde nur Hochdeutsch gesprochen, auch wenn ihrer Mutter immer wieder ein paar Sätze auf Romanes herausrutschten. Ihr sah der Babo das nach, aber die Kinder durften sich das nie erlauben. Einmal hatte er seine Schwester Chaia gerufen, Mädchen – schon hatte es eine schallende Ohrfeige gesetzt. Dafür musste Vater nicht aus der Rolle fallen, Erziehung durch Schläge war bei Deutschen wie bei Sinti oder Roma gleichermaßen üblich. Ihre Mutter dagegen war der Farbklecks in der Familie. Im Haus kleidete sie sich kunterbunt, trug riesige Ohrringe und glitzernden Schmuck. Bei jeder Gelegenheit sang oder tanzte sie. »Den Flamenco haben unsere Leute erfunden«, rief sie dann, schnippte mit den Fingern und stampfte rhythmisch, dass die Dielenbretter dröhnten und die Tassen im Schrank klirrten. Der Babo lachte dann, und die Kinder klatschten dazu. Sowie ihre Mutter jedoch einen Fuß aus dem Haus setzte, war es damit vorbei, das hatte Vater ihr eingeschärft. Nur nicht auffallen, immer anpassen! Waschechte Roma waren sie nur privat, zum Beispiel, wenn es etwas zu entscheiden oder einen Streit zu schlichten galt. Dann hielt man sich an uralte Überlieferungen. Nach außen aber waren die Köhlers deutscher als deutsch. Und trotzdem bekamen sie es bei jeder Gelegenheit zu hören: »Zigeunerpack!«
Verspätet bemerkte Erhard, dass Regen eingesetzt hatte, ganz leicht zunächst, aber stetig zunehmend. Beim Anpfiff zur zweiten Spielhälfte fiel schon ein solider Landregen, der stärker wurde. Frisias Übungsleiter hatte seine Mannschaft umgestellt, Erich Köhler und Georg Zander blieben draußen, dafür verstärkten zwei echte Eisenfüße die Oldenburger Abwehr. Wieder rannte Pauli an, kam aber nicht mehr bis vors Tor. Der Boden wurde schnell weich und tief, die Stollen der matschverklebten Schuhe boten keinen Halt mehr, Furchen durchzogen den Rasen wie Narben, der Lederball sog sich mit Nässe voll, wurde schwerer und sprang unberechenbar. Das Spiel verlor seine Klasse, verkam zu einer plumpen Bolzerei. Der Schiedsrichter hatte alle Hände voll zu tun, stellte nach einer Keilerei je einen Hamburger und Oldenburger vom Platz und pfiff sich die Lunge aus dem Leib. Die Minuten aber verstrichen, der Sieg rückte für Frisia näher.
Einige Minuten vor Schluss suchte Erhard nach seinem Bruder, um ihn zu beglückwünschen – in der Hoffnung, dass Erich die Sache mit dem Schuheputzen vergessen haben könnte. Er fand ihn unter dem Dachvorsprung der Umkleidebaracke, im Gespräch mit Georg Zander. Beide waren geduscht und umgezogen, Zander trug seine SS-Uniform, in der er noch imposanter aussah. Dem Spiel schenkten beide keine Aufmerksamkeit. Etwas anderes beschäftigte sie anscheinend weitaus mehr.
»Da ist Geld zu holen«, beschwor Zander den kleinen Stürmer, der sich den Rollkragen seines Pullovers übers Kinn gezogen hatte. »Und es wird mehr. Die ganz Schlauen sind schon letztes Jahr weg, aber die anderen merken erst so nach und nach, was die Uhr geschlagen hat. Jetzt wollen sie verkaufen, aber natürlich bekommen sie keine vernünftigen Angebote mehr. Ist klar, warum sollte man den Itzigs das Geld auch hinterhertragen, was? Und da kommen wir ins Spiel.«
Erich schüttelte den Kopf. »Das ist nichts für mich«, lehnte er ab. »Ich halte den Kopf lieber unten. Du weißt doch, meine Leute und ich gehören zu den Unbeliebten. Ich will auf keinen Fall mit unter die Räder kommen.«
So unauffällig wie möglich drückte sich Erhard neben seinem Bruder an die Holzwand. Das belauschte Gespräch von vorhin fiel ihm ein. Schritt für Schritt, eins nach dem anderen.
»Erich, du brauchst dir doch keine Sorgen zu machen!« Georg Zander schlug seinem Mannschaftskameraden wuchtig auf die Schulter. »Ihr habt doch alle den reichsdeutschen Pass, oder? Na also! Juden seid ihr auch keine, das weiß ich, weil ich dich und deine Sippschaft schon in der Kirche gesehen habe. Was soll also passieren?« Er legte Erich den Arm um die Schulter, halb vertraulich, halb Schwitzkasten: »Außerdem, solange ich auf dich aufpasse, kann dir sowieso keiner etwas anhaben. Wer Arier ist, bestimmen wir, verstanden?«
Читать дальше