HOCHBEGABUNG GLEICH GUTE LEISTUNG? UND GLEICH GUTE SCHULNOTEN?
Begabung ist nicht gleich Leistung. Der Hochbegabte als Primus mit nur Einsen auf dem Zeugnis: Das ist ein Vorurteil, das muss ganz und gar nicht so sein. Die Meinung, dass besonders begabte Kinder aufgrund ihrer enormen Begabung schulische Anforderungen gut bewältigen, dass ihnen alles leicht(er) von der Hand geht, ist ein Mythos. Oder um es anders zu sagen: Lernen und üben müssen auch Hochbegabte. Viele Probleme mit besonders begabten Kindern ergeben sich daraus, dass sie das Üben, die Anstrengung und das Lernen nicht oder viel zu spät lernen. Nur ca. 20 bis 25 Prozent der Ursachen für gute Schulleistung sind auf die Intelligenz zurückzuführen, also weit mehr als zwei Drittel liegen an anderen Faktoren! Oder anders herum: Man muss keineswegs hochbegabt sein, um in Schule oder Beruf Erfolg zu haben. In Zahlen: Lediglich 15 Prozent der hochleistenden Schüler sind Hochbegabte. Die anderen 85 Prozent sind nicht hochbegabt und erbringen trotzdem Höchstleistungen.
Begabung ist ein Potenzial. Persönlichkeitsmerkmale wie Motivation, Arbeitshaltung, Lernstrategien, Anstrengung, Durchhaltevermögen müssen hinzukommen. Und es gibt noch einen dritten wichtigen Faktor, von dem die Leistung abhängt: das soziale Umfeld.
„DIE“ HOCHBEGABUNG GIBT ES NICHT
Ebenso wie normal begabte Kinder sehr verschieden sind, so sind auch Hochbegabte keine einheitliche, eindeutig erkennbare Gruppe. Unter Hochbegabten findet man eine ebenso große Vielfalt von kleinen Persönlichkeiten, eine Vielzahl unterschiedlicher Verhaltensweisen. Unauffällig Angepasste, auffällige Chaoten, unbeliebte Besserwisser, beliebte Klassensprecher, usw. usw.
Es gibt sehr wohl Hochbegabte, die sehr schlechte Noten haben, die in der Schule versagen. Auf neudeutsch nennt man sie „Underachiever“ (Minderleister oder Geringleister), da sie viel mehr leisten könnten als sie tatsächlich zeigen. Hochbegabung ist eben nur die Möglichkeit zur Leistung, nicht die Leistung selbst. Daher gehen schulische Fördermaßnahmen, die sich auf Leistung beziehen – und das ist bei den meisten nach wie vor der Fall –, an Hochbegabten oft spurlos vorbei.
Hochbegabung braucht Unterstützung
(Hoch-)Begabung ist, wenn man so will, der gute Boden, der bei entsprechender Pflege viele hervorragende Pflanzen hervorbringen kann. Wenn dieser gute Boden aber schlecht beackert wird, dann wächst nicht viel außer Unkraut. Das heißt: Hochbegabte Kinder bedürfen ebenso wie Minderbegabte einer besonderen Förderung, einer „Sonderpädagogik“. Hier sind Eltern wie Lehrer gefordert. Es kann nicht deutlich genug gesagt werden: Das Leistungsvermögen von Hochbegabten wird üblicherweise viel zu optimistisch eingeschätzt. Oder mit anderen Worten, von alleine entwickelt sich nicht viel. Ausgeklügelte individuell zugeschnittene Lerngelegenheiten mit hochwertigem Feedback sind absolut notwendig, damit auch besonders begabte Kinder lang andauernde Lernprozesse konzentriert durchhalten.
Hochbegabung ist äußerlich nicht sichtbar. In Situationen, in denen die besonderen Fähigkeiten Hochbegabter nicht zum Tragen kommen können, werden Hochbegabte nicht auffallen.
Hochbegabung gleich Behinderung?
Hochbegabung ist keine Krankheit, keine therapiebedürftige Behinderung. Hochbegabte sind keine durchgeistigten wunderlichen Sonderlinge, die an der richtigen Welt vorbei leben, Typ „zerstreuter Professor“. Auch die „Genie-Wahnsinn-These“ entspricht nicht den Tatsachen. Hoch- bzw. höchstbegabte Menschen entwickeln nicht zwangsläufig eine pathologische Persönlichkeitsstörung. Hochbegabung ist Potential, das allerdings nur bei entsprechender Erziehung und Unterrichtsgestaltung zu kreativ-schöpferischen oder wissenschaftlichen Leistungen führt.
Hochbegabung gleich Erfolg und Karriere?
In Schlüsselpositionen in der Wirtschaft oder in der Politik sitzen selten Hochbegabte. Wo Macht und Durchsetzungsverhalten eine große Rolle spielen, ist die ausgeprägte Sozialkompetenz Hochbegabter fehl am Platz. Sie streben deshalb in der Regel keine Führungspositionen an, sie verweigern sogar klassische Karrierewege, weil sie fürchten, dann nicht mehr inhaltlich sinnvoll arbeiten zu können. Andererseits wollen sie hoch motiviert ihre Umgebung, ihre Arbeit, ihre sozialen Beziehungen zum Besseren gestalten. Hochbegabte bringen sich hier deutlich mit Verbesserungsvorschlägen ein – nicht immer zur Freude von Chef und Kollegen.
Hochbegabten geht es zumeist um logische Konsequenzen, um sachliche Richtigkeit beziehungsweise grundsätzliche Klarheit. Dieses Bestreben kann dazu führen, dass einige Hochbegabte gegen die Autorität oder das System rebellieren und von daher aggressiv und renitent erscheinen. Sie haben ihre Schwierigkeiten mit dem normalen Erziehungssystem, ebenso wie Minderbegabte damit ihre Schwierigkeiten haben.
Hochbegabte Kinder ziehen sich durch ihre hohe soziale Sensibilität eher zurück – die anderen gleichaltrigen Kinder sind zu laut, zu dumm, zu derb, zu aggressiv... Hochbegabte sind nicht aggressiv – Aggression und körperliche Gewalt finden sich eher bei Kindern, die unterdurchschnittlich intelligent sind.
Hochbegabung/Intelligenz: eine Sache der Gene?
Seit Jahrzehnten gibt es einen Zweig der Intelligenzforschung, der sich mit der Anlage-Umwelt-Frage beschäftigt: Ist Intelligenz angeboren oder von der Umwelt des Kindes geprägt, also erziehungsabhängig? Die Antwort darauf ist nicht ein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-Als auch. Der heutiger Stand der Wissenschaft besagt: Die Intelligenz ist zu ca. 50 Prozent durch die genetische Ausstattung bestimmt und zu ca. 50 Prozent durch die Umgebungsbedingungen, etwa familiärer Umgangsstil, Schule, Freunde.
Dazu noch einmal das Landwirtschaftsbild zur Verdeutlichung: Hat der Bauer einen schlechten Ackerboden, bearbeitet ihn aber mit viel Bodenverbesserungsmitteln und Dünger, so wird er trotz schlechter Ausgangslage eine gute Ernte erhalten können. Hat der Bauer dagegen einen ausgezeichneten Boden, bearbeitet ihn aber nicht sorgsam, so wird er trotz guten Bodens im Laufe der Jahre nur eine schlechte Ernte einfahren. Genauso ist es mit den intellektuellen Fähigkeiten: Werden sie nicht gefördert und trainiert, verkümmert auch eine gute genetische Anlage. Auch Hirnzellen, die die Basis für den Grips darstellen, sind Körperzellen. Sie müssen wie Muskeln beansprucht, trainiert werden, sonst werden sie träge und schlaffen ab.
Aber der Bauer kann das Pflanzenwachstum auch durch zu viel Dünger erzwingen wollen. Entsprechend: Gerade für die frühe Kindheit darf nicht vergessen werden, dass Reifungsprozesse ihre Zeit brauchen, dass Förderung „um jeden Preis“ Schaden anrichten kann.
ABHAKEN UND AUFSUMMIEREN REICHEN NICHT
Es gibt nicht „die“ Hochbegabung, „das“ hochbegabte Kind, sondern ganz unterschiedliche Erscheinungsformen. Wie alle Menschen sind auch die besonders begabten verschieden. Daher ist jede Checkliste, auch unsere, mit großer Vorsicht zu genießen. Die einfache Formel „mein Kind ist umso begabter, je häufiger ich auf die folgenden Fragen mit ja antworte“ gilt nicht.
DENK-, BEOBACHTUNGS- UND GESPRÄCHSGRUNDLAGE
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