Dieses Buch soll also nicht die akademische Diskussion bereichern. Es geht auch nicht um neue Schulprogramme. Es soll Rat geben, sprich: praktische Hilfestellung im Erziehungsalltag für die ganzheitliche Förderung der Kinder. Viele Förderprogramme beschränken sich auf den intellektuellen, kognitiven Bereich. Das greift zu kurz. Wo bleibt die Emotionalität? Wo das Sozialverhalten? Viele Probleme ergeben sich unserer Erfahrung nach erst dadurch, dass verschiedene Entwicklungsbereiche der Kinder unharmonisch auseinander klaffen.
Wir möchten betroffenen Eltern und Erziehern Mut machen, auch einmal neue Wege zu gehen. Etwas Neues ausprobieren gibt den Eltern die Chance, ihre Kinder mit anderen Augen zu sehen und dadurch zu einem zufriedene(re)n Miteinander zu kommen.
Dankbar sind wir den 4800 Eltern, die wir bisher beraten haben. Sie haben uns unendlich viele Beispiele genannt, wann und unter welchen Umständen bestimmte Maßnahmen erfolgreich waren. Diese wertvollen Rückmeldungen haben wir gesammelt und zu systematisieren versucht. Die Tipps gelten nicht nur für den Umgang mit Kindern, die klar als hochbegabt diagnostiziert worden sind, sondern auch für den Umgang mit besonders pfiffigen Kindern.
Mancher Tipp wird plausibler, wenn man mit einem neuen Verständnis und etwas anderer Hintergrundinformation an die Kinder herangeht. Als Grundlage dienen einschlägige psychologische Theorien, die allerdings stark verkürzt beschrieben sind.
Wir hoffen, dass Eltern unseren Ratgeber nicht nur einmal durchlesen und dann beiseite stellen, sondern ihn sich immer wieder einmal nehmen, darin herumschmökern und sich Anregungen zum Ausprobieren holen. Es gibt viele Eltern, die bei ihren besonders begabten Kindern mit ihren traditionellen Erziehungsmethoden nicht (mehr) weiterkommen. Diese finden hoffentlich den Mut, Neues zu riskieren. Denn es gehört schon Mut und Zuversicht dazu, sich mit seinem Kind gemeinsam auf eine neue Lernerfahrung einzulassen. Der Ausgang ist immer ungewiss. Die vielen aufgeführten Beispiele 2, die sich natürlich nicht auf jedes Kind eins zu eins übertragen lassen, mögen die elterliche Phantasie anregen und zum Handeln auffordern.
Der besseren Auffindbarkeit wegen werden in diesem Buch auch die zusammenhängenden Ausführungen in einzelnen, jeweils kursiv überschriebenen Kerngedanken aufgeschlüsselt.
Wir wünschen allen Eltern, dass sie es schaffen, die wunderbare Kreativität dieser Kinder – die sich so oft störend in unserer Gesellschaft auswirkt – zu erhalten, ihre Kinder aber trotzdem zu befähigen, sich ohne seelischen Stress an gesellschaftliche Gepflogenheiten anpassen zu können. Wir haben solche sozial anpassungsfähigen Querdenker bitter nötig!
Christa Rüssmann-Stöhr
Hagen Seibt
Bei unserem Thema herrscht Verwirrung wie beim Turmbau zu Babel:
• „Hochbegabung“
• „besondere Begabung“
• „Sonderbegabung“
• „überdurchschnittliche Begabung“
• „Hochleistungsdisposition“
• „potenzielle Hochbegabung“
• „allgemeine Hochbegabung“
• „spezifische Begabungen“
• „intellektuelle Hochbegabung“
• „intellektuelle Begabung“
• „nicht-intellektuelle Begabung“
• „besonderes Talent“
• „generelle Intelligenz“
• „emotionale Intelligenz“
• „soziale Intelligenz“
• „allgemeine Intelligenz“
• „multiple Intelligenzen“
• „mathematisch-räumliche Intelligenz“
• „sprachliche Intelligenz“
• „fluide und kristalline Intelligenz“
So lauten einige der gebräuchlichen Begriffe in diesem Zusammenhang. Sie meinen teilweise dasselbe, teilweise Unterschiedliches. Geradezu eine Inflation von Begabungen und Intelligenzen.
Vergleichbares gilt für den theoretischen Hintergrund. Theorien zur Hochbegabung gibt es seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Experten sind sich bis heute nicht einig. Es gibt nicht die einzige, unumstrittene Auffassung,
• was Hochbegabung oder besondere Begabung eigentlich ist,
• womit sie zusammenhängt,
• wie sie entsteht,
• wie man am besten mit ihr umgeht.
Einig sind sich alle Experten darin, dass Intelligenz nicht homogen ist, dass sich Intelligenz also aus mehreren Aspekten ergibt. Ein Modell geht von einer Vielzahl unabhängiger Faktoren aus. Andere Experten sehen einen generellen Grundfaktor und darüber hinaus einzelne Spezialfaktoren.
Eine weitere Unterscheidung, die Eingang in die Konstruktion von Testverfahren gefunden hat, ist die Differenzierung zwischen sogenannter fluider und kristalliner Intelligenz. Unter fluider Intelligenz (von lateinisch fließend) wird „Bewegliches“ verstanden, also Denkgeschwindigkeit, Gedankenvielfalt, Kreativität, Originalität, Gehen eigener Denkwege, Phantasie. Kristalline Intelligenz ist dagegen eher etwas „Festes“, wie alles Gelernte, unsere Erfahrungen, Bildung, Wissen. Kristalline Intelligenz nimmt mit den Jahren zu, fluide Intelligenz nimmt mit den Jahren eher ab.
Bekannte deutsche Forscher auf dem Gebiet sind C. Fischer, K. A. Heller, F. J. Mönks und D. H. Rost, von denen jeder sein eigenes Konzept vertritt.
Lassen wir die Diskussion in der Wissenschaft beiseite, denn sie hilft im Alltag – im Umgang mit besonders begabten Kindern – nicht viel weiter. Was nun ist mit Hochbegabung gemeint?
Hochbegabung gleich Einstein oder Beethoven?
Es geht nicht um spezielle Sonderbegabungen à la Mozart oder Beet-hoven auf einem bestimmten Gebiet, sei es die Musik, die Kunst oder der Sport. Hochbegabung bezieht sich auf grundlegende Faktoren, die Intelligenz ausmachen, wie z.B. Denkgeschwindigkeit, Aufmerksamkeitsspanne, Erkennen logischer Zusammenhänge und Regeln, neugieriges kreatives Finden, das Wissen darum, warum etwas so und nicht anders ist.
HOCHBEGABUNG = DENKSTRUKTUREN
Intellektuell hochbegabt ist jemand,
• der sich schnell und effektiv neues Wissen aneignen kann, landläufig schnelle Auffassungsgabe genannt;
• der neues Wissen, neue Erkenntnisse mit bereits vorher Eingespeichertem breit vernetzen kann;
• der sein Wissen in neuen Situationen gezielt einsetzen kann;
• der seine Denk- und Lösungsstrategien auf ungewohnte Fragestellungen zielsicher übertragen kann;
• der gut auch schwierige Probleme lösen kann.
Wie viel ist drei Viertel von 60?
Ein Beispiel für die Denkstrukturen Hochbegabter: Ein siebenjähriger Junge gab auf die Frage: „Wie viel ist drei Viertel von 60?“ die richtige Antwort: 45.
Da er Bruchrechnen nicht kannte, konnte er nicht den für uns üblichen Weg der Berechnung (60 : 4 x 3) beschritten haben. Wie er darauf gekommen ist? Er hat nicht geraten, sondern logisch abgeleitet: „Die Stunde hat 60 Minuten. Und eine Dreiviertelstunde hat 45 Minuten. Also muss es 45 sein.“
Ein Vorschüler, fünf Jahre alt, murmelt: „2 mal 7 ist 14, dann 28, 3 ... ist 48, dann muss ich noch eins dazu, raus kommt also 49.“ Was steckt hinter dieser kryptischen Äußerung? Der Gedankengang des Kleinen war offensichtlich folgender: 2 x 7 ist 14. Dann ist 4 x 7 das Doppelte, also 28. Dann müssen noch 3 x 7, also 21 dazu. Da nehme ich erst die glatte Zahl 20, da bin ich bei 48. Und dann bleibt noch eins, was dazu muss. Also ist das Ergebnis 49.
Und ein letztes Beispiel. Es geht um die Bestimmung des Geburtsdatums. Frage: „Wann hast du Geburtstag?“ Antwort eines Fünfjährigen: „Am 13. Februar.“ Nächste Frage: „Und in welchem Jahr?“ Erstaunte Antwort: „In jedem Jahr.“ Völlig korrekte Antwort auf die ihm gestellte schwammige Frage.
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