Wie in anderen Stiftungskulturen der Alten Welt bildeten Götter- und Ahnenstiftungen auch in Griechenland und Rom die Urtypen von Stiftungen. Werke dieser Art zugunsten des Götterkultes begegnen in Griechenland seit dem frühen 4. Jahrhundert. Ein Zeuge seiner eigenen Stiftung für das Artemisheiligtum in Ephesos war der Historiker Xenophon, bezogen auf den Ort Skillus bei Olympia um 400 v. u. Z.: „Scholle der Artemis geweiht! Wer sie innehat und bebaut, soll den Zehnten jedes Jahr als Opfer darbringen; aus dem Überschuss ist das Heiligtum in Stand zu halten; richtet jemand dies nicht aus, wird er der [Rache der] Göttin anheimfallen.“67 Stiftungen für die Toten erscheinen seit dem 3. Jahrhundert v. u. Z. Nach einer inschriftlich überlieferten Urkunde hatten etwa Agasikles und Nikagora der Bürgerschaft von Kalaureia Geld und ein Stück Ackerland für eine Stiftung zugunsten der Götter und ihrer selbst vermacht. Nachdem die Verwalter „den Zins von dem Geld und die Pacht von dem Grundstück eingetrieben“ hatten, sollten „sie hiervon dem Poseidon ein ausgewachsenes Opfer und Zeus, dem Erretter, ein ebensolches darbringen“; ferner sollten sie noch „einen Altar (…) errichten vor den am Rathause stehenden Statuen der Stifter; das Opfer soll jährlich veranstaltet werden, wie es auf der Säule geschrieben steht; auch alles andere sollen sie möglichst schön besorgen.“68 Noch ausführlichere Bestimmungen bietet das Testament eines römischen Bürgers aus Langres (in Gallien), der dem Völkerstamm der Lingonen angehörte.69 Laut dem um 100 u. Z. datierenden Dokument hat der Testator einen Grabbau ( cella memoriae ) errichtet und Anweisungen zur Ausstattung, zur Stiftungsverwaltung und zum Totengedenken gegeben. Die cella sollte durch einen Anbau ( exedra ) ergänzt werden, in dem eine Sitzstatue des Initianten aus Marmor oder Bronze aufzustellen war; vor dem Denkmal sollte ein Bett errichtet werden, an den beiden Seiten des Grabes waren Steinbänke vorgesehen. Für die Tage, an denen das Gebäude geöffnet sein würde, sollten Decken und Kopfkissen, aber auch Mäntel und Unterkleider bereitliegen, damit sich die Besucher zum Totenmahl lagern könnten. Vor der cella musste nach der Vorschrift des namentlich unbekannten Testators ein hervorragend gemeißelter Altar für seine Gebeine aufgestellt werden. Die Aufsicht über die Grabstätte, zu der auch Seen und Obstgärten gehörten, war zwei Freigelassenen anvertraut, denen auch finanzielle Mittel zur Instandhaltung der Anlage überlassen wurden. Zu ihrer Unterstützung sah der Stifter drei Kunstgärtner mit Lehrlingen vor; falls einer von diesen stürbe, sollte ein Nachfolger bestimmt werden. Zum Lohn waren für jeden Gärtner 60 Scheffel Weizen im Jahr eingeplant, die der Erbe des Testators namens Aquila und dessen eigene Erben auszahlen sollten. Die Grabanlage selbst war ausschließlich für den römischen Bürger selbst bestimmt; nachdrücklich wendet er sich gegen jede Zweckentfremdung durch eine weitere Bestattung. Aquila und den Nacherben werden empfindliche Geldstrafen zugunsten der civitas Lingonum angedroht, falls sie diese Vorschrift nicht einhalten sollten. Schließlich regelt der Testator genau den ihm zu widmenden Totenkult. Mit der Ausrichtung des Begräbnisses und der Leichenfeiern betraute er neben seinem Neffen Aquila drei andere Männer, unter ihnen einen weiteren Freigelassenen. Für die Zeit nach der Bestattung legte er regelmäßige Feiern am Grabe fest. Seine Freigelassenen insgesamt, aber auch Aquila, sollten alljährlich bestimmte Geldzahlungen zum Erwerb von Esswaren und Getränken leisten. Diese Lebensmittel waren für die periodischen Opfer vor der cella memoriae bestimmt und sollten an der Grabstätte verzehrt werden. Die Freigelassenen hatten ferner jährlich wechselnde „Kuratoren“ für den Totenkult zu wählen, die sechsmal im Jahr die sacra am Grabe begehen sollten. Die ersten dieser curatores hat der Testator noch selbst bestimmt.
Nach der lange Zeit maßgeblichen Lehre des Rechts- und Religionswissenschaftlers Eberhard F. Bruck bildete die Erhaltung des Totenkults „das wichtigste oder jedenfalls ein treibendes Motiv“ für das römische Stiftungswesen.70 Ebenso wie im Hellenismus am Beginn des 3. Jahrhunderts v. u. Z. lasse sich in Rom um 100 u. Z. der Wandel zu einer individualistischen Einstellung im Verhältnis zum Leben nach dem Tode feststellen.71 Wie sich in Griechenland die alten Verbände der Familien und Geschlechter auflösten, sei vier Jahrhunderte später in den großen Familien der späten Republik der freiwillige Totenkult zunehmend vernachlässigt worden; der Aufstieg neuer Stände, so der equites („Ritter“), habe auch das Bedürfnis eines eigenen Totenkultes mit sich gebracht.72 Um die Familienpietät zu sichern, seien neue rechtliche Formen nötig geworden. Das Misstrauen gegen die Erben, die einst den Totenkult als wichtigste Pflicht gegenüber Eltern und Vorfahren verrichtet hätten, habe überhaupt erst zur weiten Verbreitung der Stiftungen geführt.73
Rezente Forschungen haben dieser Rekonstruktion teilweise den Boden entzogen.74 So wurde gezeigt, dass römische Stiftungen schon ins frühe erste nachchristliche Jahrhundert zurückgehen und sich nur wenige Stifter aus der senatorischen Oberschicht nachweisen lassen. Auch handele es sich bei diesen Fällen gar nicht um Totenkultstiftungen.75 Trotzdem hat eine jüngere Autorin ihre Monographie über Stiftungen der augusteischen Zeit wiederum mit „Sehnsucht nach Ewigkeit“ als leitendem Motiv überschrieben.76 Sogar bis in die Zeit der späten Republik (also bis 30 v. u. Z.) reichten Grabstiftungen nach dieser Untersuchung zurück; charakteristische Initianten und Träger waren Freigelassene.77 Die ehemaligen Sklaven erwarben zwar das Bürgerrecht, konnten jedoch keine Ämter übernehmen und nicht in den Militärdienst eintreten. „Als Bürgern zweiter Klasse waren den Freigelassenen also wichtige Wege zu Ruhm und Ansehen – den Voraussetzungen für ein Weiterleben im Andenken der Nachwelt – versperrt.“78 Um den eigenen Namen über den Tod hinaus vor dem Vergessen zu bewahren, boten sich ihnen Grabmonumente mit Stifterinschriften an, die mit ‚Grabgärten‘ ausgestattet sein konnten. Diese mochten Blumen für die Erinnerungsfeiern oder andere Naturprodukte für die Totenmähler hervorbringen. Die Weitergabe des Namens unter den folgenden Generationen wurde dadurch bewirkt, dass die Freigelassenen ihrerseits Sklaven freiließen, die den Namen ihres Patrons trugen. Auch der Geburt nach freie Bürger wie der Stifter aus Langres bedienten sich dieses Instruments einer Memorialstiftung mit Hilfe von Freigelassenen. Der Konstruktion kam der unter Augustus rechtsverbindlich gewordene Fideikommiss entgegen;79 das Stiftungsgut wurde den Freigelassenen und deren eigenen Nachfolgern auf Treu und Glauben zur Umsetzung des Grab- und Erinnerungskultes übergeben.80 Belohnt werden konnten diese, indem ihnen ebenfalls das Bestattungsrecht am Grab ihres Patrons zuerkannt wurde.
Stiftungen für Menschen nach der Revolution der Achsenzeit
Stiftungen für die Götter und die Ahnen waren Produkte einer Auffassung des Daseins und der ‚Welt‘, in der Lebende und Tote ihren Platz in der Einheit des Kosmos fanden; um vom Diesseits zum Jenseits zu gelangen, waren die Menschen noch nicht auf göttliche Hilfe oder eigene Leistung angewiesen. Zwar waren die Einzelnen in ihren Familien, Ständen und örtlichen Lebensgemeinschaften in Solidarität verbunden, aber eine ethische Verpflichtung zur Hilfe der Fremden kannte man so wenig wie das Mitgefühl. Die Zäsur, mit der dieses anders wurde, wird nach Karl Jaspers die ‚Achsenzeit‘ genannt. Nach Jaspers habe die „Achse der Weltgeschichte“, der „tiefste Einschnitt der Geschichte“, zwischen 800 und 200 vor Christus gelegen; er schrieb dazu: „In dieser Zeit drängt sich Außerordentliches zusammen. In China lebten Konfuzius und Laotse, entstanden alle Richtungen der chinesischen Philosophie, dachten Mo-Ti, Tschuang-Tse, Lie-Tse und ungezählte andere, – in Indien entstanden die Upanischaden, lebte Buddha, wurden alle philosophischen Möglichkeiten bis zur Skepsis und bis zum Materialismus, bis zur Sophistik und zum Nihilismus, wie in China, entwickelt, – in Iran lehrte Zarathustra das fordernde Weltbild des Kampfes zwischen Gut und Böse, – in Palästina traten die Propheten auf von Elias über Jesaja und Jeremias bis zu Deuterojesaja, – Griechenland sah Homer, die Philosophen – Parmenides, Heraklit, Plato – und die Tragiker, Thukydides und Archimedes. Alles, was durch solche Namen nur angedeutet ist, erwuchs in diesen wenigen Jahrhunderten annähernd gleichzeitig in China, Indien und dem Abendland, ohne dass sie gegenseitig voneinander wussten.“81 Im Zentrum des gleichartigen Durchbruchs habe die Entdeckung der Transzendenz gestanden, die das Weltbild der Menschen fundamental veränderte. Die Vorstellung vom Kosmos, die Menschen- und Götterwelt als Einheit auffasste, wurde verdrängt durch die Trennung von Diesseits und Jenseits, das Heilige wurde entrückt und die Welt, mit Max Weber gesprochen, ‚entzaubert‘.82 Der Einzelne war nicht länger eingebunden in eine kosmische Kultgemeinschaft, sondern musste die entstandene Kluft zwischen dem Hier und Dort selbst überwinden. Mit der Entdeckung der Transzendenz auf sich selbst verwiesen, erfuhr er sich als Subjekt, Persönlichkeit oder Individuum, also als ein je anderer zu seinen Mitlebenden.83 Da sich die Sinnsuche keineswegs auf ein Jenseits ausrichten musste, das mit oder ohne göttliches Wesen radikal verschieden vom Diesseits sein sollte, konnte sie auch in der Selbsttranszendenz liegen, also in der Überwindung der Selbstsucht.84 Entschieden betont wurden dementsprechend noch unlängst die ethischen Anforderungen der Achsenzeit: „Ins Zentrum des spirituellen Lebens rückte nun die Moral. Der einzige Weg, dem zu begegnen, was sie ‚Gott‘, ‚Nirwana‘, ‚Brahman‘ oder den ‚Weg‘ nannten, war es, ein Leben im Zeichen des Mitgefühls zu führen.“85 Andererseits konnte der Einzelne die diesseitige Welt als wandelbar erkennen, Utopien entwickeln und soziale Veränderungen bewusst herbeiführen. So war die sogenannte Achsenzeit auch die Geburtsstunde des Intellektuellen.86
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