Sunny war nervös. Vielleicht war sie sogar ängstlich, aber das würde sie mit Sicherheit nicht zugeben, nicht vor sich selbst und gleich dreimal nicht vor der Marquart oder vor sonst irgendjemandem. Sie hatte sich dazu bereit erklärt mit Annas Freund zu sprechen, und genau das würde sie jetzt auch tun.
Annas Freund .
Vor 24 Stunden hatte sie noch nicht einmal gewusst, dass es ihn gab, und jetzt war sie auf dem Weg zu ihm, weil er mit ihr sprechen wollte, weil er anscheinend angedeutet hatte, ihr gegenüber ein Geständnis ablegen zu wollen. Sunny hätte wirklich gerne gewusst, was Anna ihm über sie erzählt hatte.
Esther Marquart, die neben ihr am Steuer saß, gab sich alle Mühe, zuversichtlich zu wirken, aber Sunny war sich ziemlich sicher, dass die andere noch unruhiger war, als sie selbst. Es war offenkundig, wie wichtig das bevorstehende Gespräch für die Polizei war, wie viel sie sich davon erhoffte. Und letztlich war es doch so, dass sie sie, Sunny, nicht wirklich kannten und sich somit blind darauf verlassen mussten, dass sie das hinbekam.
„Frau Marquart“, begann Sunny nun, „ich weiß, ich habe mich spontan zu diesem Gespräch bereit erklärt, aber ehrlich gesagt wüsste ich vorab doch gerne noch ein paar Dinge. Bisher haben Sie mir außer dem Namen des Mannes nur verraten, dass er Annas Freund war und dass Sie ihn gestern verhaftet haben, weil Sie glauben, er habe Anna aus diesem Fenster gestoßen.“
Die Marquart warf ihr einen kurzen Seitenblick zu.
„Naja, also ich persönlich glaube gar nichts. Aber auf jeden Fall spricht einiges für ihn als Täter.“
„Das heißt, Sie haben ihn verhaftet, obwohl sie nicht glauben, dass er Anna gestoßen hat?“
Esther Marquart verzog das Gesicht.
„Leider interessiert es den Staatsanwalt nicht, was ich glaube. Die Sachlage ist, wie sie ist, und uns ist nichts anderes übrig geblieben, als ihn festzunehmen. Er wird beschuldigt, weil die Spuren am Tatort und in seiner Wohnung auf ihn als Täter hinweisen und er sich bei seinen Aussagen in Widersprüche verstrickt hat. Außerdem hat er nicht nur kein Alibi, sondern wurde in der Nacht sogar in dem Haus, in dem Frau Henkes gewohnt hat, gesehen. Und er hat ein Motiv – Mittel, Motiv und Gelegenheit, Sie verstehen?“
Nun war es an Sunny das Gesicht zu verziehen, denn sie wurde langsam ungeduldig. Sie mochte die Marquart, keine Frage, aber sie merkte sofort, wenn ihr jemand auswich.
„Na, das wüsste ich aber gerne etwas genauer. Sie können doch nicht allen Ernstes von mir verlangen, dass ich dieses Gespräch führe und Sie mir im Vorfeld nichts verraten. Ich meine, der will doch nicht mit mir reden, weil er mich auf den Fotos in Annas Wohnung so hübsch fand. Der Verdächtige kriegt die Decker, wir kriegen das Geständnis. Oder wie?“
Bereits zum zweiten Mal innerhalb der letzten beiden Tage erschrak Sunny über sich selbst. Sie hatte Esther Marquart eigentlich gar nicht so hart angehen wollen, doch seit sie von Annas Tod erfahren hatte, war sie fix und fertig. Und die Marquart hatte so eine herrische, bevormundende Art, mit der sie sie innerhalb weniger Sekunden von Null auf 100 brachte.
Verdammt .
„Entschuldigung. Ich bin im Moment einfach nicht besonders ausgeglichen.“ Sunny versuchte zu lächeln. „Aber auch wenn ich mich gerade im Ton vergriffen habe, möchte ich doch trotzdem genauer wissen, wie der Stand der Dinge ist. Sie haben mir bis jetzt so gut wie gar nichts verraten. Was Sie von sich geben, sind vage Andeutungen. Ich komme mir vor wie ein Bauernopfer. Ich habe eine Ausbildung in Gesprächsführung, und ich kann das gut machen, wenn Sie mich da nicht völlig unvorbereitet rein schicken.“
Sunny sah die Polizistin beschwörend an.
„Und außerdem – eine Hand wäscht die andere. Wenn Sie meine Hilfe wollen, will ich gefälligst auch wissen, was hier los ist“, schloss sie trotzig.
Esther Marquart zögerte kurz.
„Also gut, ich denke, das ist nur fair. Ich hoffe aber, Ihnen ist klar, dass Sie die Informationen, die ich Ihnen jetzt gebe, nicht offen verwenden dürfen. Mein Chef reißt mir den Kopf ab und geht damit kegeln, wenn er rauskriegt, dass ich Ihnen das erzählt habe.“
Sunny nickte.
„Wie Sie bereits wissen, haben wir Jan Liebig heute kurz nach Mitternacht festgenommen. Auf die Gründe hierfür werde ich gleich noch eingehen. Im Moment bedeutet diese Festnahme aber vor allem, dass wir ihn spätestens am morgigen Dienstagabend, mit Ablauf des auf die Verhaftung folgenden Tages, dem Haftrichter vorführen müssen. So wie es im Moment aussieht, könnte das aber eine wackelige Angelegenheit werden. Es wäre möglich, dass wir ihn danach wieder laufen lassen müssen. Und dann wird es umso schwerer, einen erneuten Haftbefehl gegen ihn zu erwirken. Das heißt, wir stehen im Moment wirklich unter Zeitdruck und brauchen alle Informationen, die wir kriegen können. Die Gründe, die zu seiner Festnahme geführt haben, verständlich darzulegen, ist ehrlich gesagt gar nicht so einfach, weil es noch viel zu viele Unklarheiten gibt. Nicht zuletzt darum erhoffen wir uns ja auch so viel von dem Gespräch, um das wir Sie gebeten haben.“
Die Polizistin machte eine kurze Pause, bevor sie weitersprach.
„Bei einem nicht natürlichen Todesfall ist es zunächst einmal so, dass wir alle möglichen Hypothesen aufstellen. Bei einem Tötungsdelikt ist eine der ersten Fragen die, ob es sich um einen Fremd- oder um einen Beziehungstäter handelt, das heißt um jemanden, mit dem das Opfer bekannt war. Wobei tatsächlich 80% der Tötungsdelikte Beziehungstaten sind.“
„Heißt das, Sie wissen jetzt, dass Anna umgebracht wurde? Das wussten Sie gestern noch nicht.“
Die Polizistin wiegte ihren Kopf hin und her, während sie ihr Fahrzeug gleichzeitig auf die linke Spur lenkte, um einige Lastwagen zu überholen.
„Sagen wir einfach, es spricht vieles dafür.“
Esther Marquart räusperte sich, bevor sie weitersprach.
„Jan Liebig ist als Frau Henkes‘ Partner natürlich besonders interessant für uns. Sie wissen schon, die Statistik. Daher haben wir ihn mehrmals befragt. Wir wollten sehen, ob er sich in Widersprüche verstrickt.“
Die Polizistin berichtete, dass Annas Freund am Sonntagmorgen ausgesagt hatte, er habe den Vorabend mit Freunden in einer Kneipe verbracht und sei dann zwischen 0:30 Uhr und 1 Uhr zu Annas Wohnung aufgebrochen. Seine Begleiter hatten dies bestätigt. Von der Kneipe aus hatte er nur wenige Minuten gehen müssen, und zunächst hatte er angegeben, wie verabredet bei seiner Freundin geklingelt zu haben.
„Nachdem diese ihm nicht geöffnet hat, will er nach Hause gegangen sein und den Rest der Nacht allein und schlafend verbracht haben.“
Die Kommissarin holte vernehmlich Luft.
„Die Sache ist aber die, dass der Kerl laut meinen Kollegen morgens gestunken hat wie ein Iltis. Und siehe da: Er hatte um 9 Uhr früh noch 0,8 Promille. So was wirft natürlich Fragen auf“, dozierte sie weiter.
„In einer zweiten Befragung sonntagnachmittags auf dem Präsidium hat mein Chef Jan Liebig dann mitgeteilt, dass wir DNA-Spuren an der Leiche gefunden haben, die auf einen anderen Ablauf der Ereignisse hindeuten. Dass die Ergebnisse der Analyse noch ausstanden, hat er dabei natürlich nicht erwähnt. Jan Liebig hat seine Aussage jedenfalls sofort geändert und behauptet, er habe Anna Henkes tot auf ihrem Bett liegend vorgefunden, aber zunächst gedacht, sie würde nur schlafen. Also habe er sie wecken wollen und daher berührt. Dass er das eingeräumt hat, heißt für uns, dass er sich vorstellen kann, dass wir seine DNA an der Leiche gefunden haben. Als ihm klar wurde, dass Frau Henkes tot war, will er einen Schock erlitten haben und weggerannt sein. Er gab an, sich zu Hause noch eine Flasche Wodka hinter die Binde gekippt und dann geschlafen zu haben, bis die Kollegen ihn rausgeklingelt haben. Spätestens nach dieser Aussage ist der Liebig also tatverdächtig. Die Geschichte war aber schon einfach deshalb unglaubwürdig, weil, …wie soll ich das beschreiben, …weil sie eben einfach irgendwie holprig war.“
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