Wieder hielt die Polizistin kurz inne, um Sunny Zeit zu geben, das Gesagte zu verarbeiten.
„Was wir uns von Ihnen erhoffen“, fuhr sie dann fort, „sind zunächst ein paar Informationen.“
Sunny nickte.
„Wann hatten Sie das letzte Mal Kontakt zu Frau Henkes?“
„Wie bereits gesagt, das war kurz vor meiner Hochzeit, also im Frühsommer 2013.“
Sunny glaubte, einen Anflug von Enttäuschung bei der Polizistin wahrzunehmen, war sich ihrer Sache jedoch nicht sicher.
„Seither war da kein Kontakt mehr? Auch keine Briefe oder E-Mails oder irgendwelche anderen Nachrichten?“
Sunny schüttelte den Kopf.
„Haben sie denn etwas über Frau Henkes gehört? Ich meine, gab es mittelbaren Kontakt über Dritte?“
Sunny blies nachdenklich gegen ihre Finger.
„Naja, bestimmt, aber ich erinnere mich an nichts Konkretes. Wir haben, äh, wir hatten ja viele gemeinsame Bekannte. Sicher hat da mal jemand was erwähnt, aber ich erinnere mich weder an bestimmte Situationen noch an Inhalte.“
„Und trotzdem waren Sie ihr auf diese besondere Art eine Ansprechpartnerin.“
„Ja. So war Anna.“ Sunny zog die Brauen nach oben. Ein trauriges Lächeln umspielte ihre Lippen. „Rätselhaft bis zum Schluss.“
Die Polizistin, der die Bitterkeit dieser Worte nicht entgangen war, sah sie fragend an.
„Ach nichts“, wehrte Sunny ab.
„Sehen Sie“, hakte die Marquart nach, „unsere Aufgabe besteht im Moment zunächst einmal darin festzustellen, ob ein Verbrechen vorliegt, ob wir es mit einem Unfall zu tun haben oder ob Frau Henkes sich suizidiert hat. Sollte ersteres zutreffen, werden wir dann den Täter und die Tatumstände ermitteln“, erklärte Sie geduldig weiter. „Im zweiten Fall klären wir ebenfalls die näheren Umstände und prüfen, ob und inwieweit Fremdverschulden vorliegt. Trifft letzteres zu, ist unsere Arbeit hier beendet. Natürlich sind diese inhaltliche Trennung und die Festlegung einer zeitlichen Abfolge der Arbeitsschritte aber eher theoretischer Natur.“ Die Polizistin holte an dieser Stelle vernehmlich Luft. „ Auf jeden Fall benötigen wir aber zur Beantwortung all dieser Fragen jegliche verfügbare Information. Und gerade solche Informationen, die uns Einblicke in die Persönlichkeit der Verstorbenen gewähren, sind besonders wertvoll. Wir müssen wissen, wer Anna Henkes war, um die richtigen Schlussfolgerungen ziehen zu können.“
Die Marquart sah Sunny fest in die Augen.
„Okay. Und jetzt?“
Sunny war irritiert.
„Natürlich möchte ich Ihnen helfen, das steht außer Frage. Aber ich kann Ihnen nichts über Anna sagen, das wirklich aktuell wäre.“
„Frau Decker“, die Polizistin atmete erneut tief ein und Sunny glaubte zu merken, dass sie die Geduld der anderen im Moment etwas strapazierte, „natürlich muss ich zugeben, dass wir uns etwas anderes erhofft hatten. Aber wir müssen eben nehmen, was wir kriegen können.“
Sie lächelte, bevor sie einen kurzen Blick mit ihrem Kollegen wechselte, sprach dann aber sofort weiter.
„Sie als Psychologin wissen doch hundertmal besser als ich, dass sich die Persönlichkeit eines erwachsenen Menschen ohnehin nicht binnen zwei oder drei Jahren von Grund auf ändert. Wenn Sie uns ein Bild der Person Anna Henkes, die Sie kannten, zeichnen könnten, dann könnten wir dieses anhand der Informationen, die wir noch sammeln werden, ergänzen. Sie können uns da wirklich vertrauen.“
„Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wollen Sie also einfach nur, dass ich Ihnen von Anna erzähle?“
„Ja, im Grunde genommen schon. Wir möchten Sie allerdings bitten, uns dazu noch heute auf dem Präsidium in Karlsruhe aufzusuchen, damit wir Ihre Aussage gleich zu Protokoll nehmen können. Bis heute Nachmittag werden wir es auch geschafft haben, die Dinge in Frau Henkes‘ Wohnung zu sichten. Es ist gut möglich, dass sich hieraus dann wieder neue Fragen an Sie ergeben.“
Sunny zuckte kurz zusammen. Es war ihr bis jetzt noch gar nicht in den Sinn gekommen, dass die Polizisten ja auch all ihre Briefe lesen würden.
Na, das ist dann wohl mal so .
Was sollte sie auch machen?
„Werde ich die Briefe von Anna an mich lesen müssen?“, wollte sie nun wissen.
Die Marquart war sichtlich verwundert über diese Frage und Sunnys plötzlich so abwehrende Haltung.
„Es ist möglich, dass wir Sie bitten werden, sich das ein oder andere Schriftstück anzusehen.“
Sunny presste die Zähne aufeinander und nickte stumm.
Als das Gespräch mit den Polizeibeamten endlich beendet gewesen war, hatte Sunny eine Visitenkarte von Frau Kriminaloberkommissarin Esther Marquart in der Hand gehalten, auf deren Rückseite die Worte „heute 17 Uhr“ vermerkt waren. Doch an den Rändern ihres Gesichtsfeldes hatten immer noch Nebelschwaden gewabert.
Und auch als sie jetzt von einer Horde ihrer schlimmsten Dämonen, wiedererweckten und neu erworbenen, durch den Wald gejagt wurde, wollte ihre Sicht nicht wieder völlig aufklaren.
Vielleicht ist das aber auch gar kein Nebel. Vielleicht ist das Schwefeldampf, der durch irgendwelche Ritzen im Boden aufsteigt, weil die Hölle kurz davor ist, sich aufzutun .
Sonntag, 08. Mai 2016, 17:00 Uhr Kripo Karlsruhe, Hertzstraße
Sunny hatte Glück gehabt und auf Anhieb einen Parkplatz gefunden, sodass sie das Polizeigebäude in der Hertzstraße pünktlich betreten und an die Tür klopfen konnte, neben der das Schild mit Esther Marquarts Namen und Dienstgrad angebracht war. Die Polizistin öffnete ihr prompt, bat sie aber noch einen Moment auf dem Gang Platz zu nehmen. Da sie sich das Büro mit zwei ihrer Kollegen teilte, mussten sie sich in einem anderen Raum unterhalten. Hier hatten sie weder den Platz noch die nötige Ruhe.
Als Sunny vom Laufen nach Hause gekommen war, hatte Bianca sie in der Küche mit einem zweiten Frühstück erwartet. Ihre Schwester hatte ihr sofort angesehen, dass etwas Schlimmes vorgefallen war und ihr einen fragenden Blick zugeworfen. Allein das hatte ausgereicht, um Sunny auf der Stelle in Tränen ausbrechen zu lassen. Sie hatte Bianca schluchzend berichtet, was vorgefallen war. Die beiden hatten dann den restlichen Tag miteinander verbracht. Sie hatten geredet und Kaffee getrunken, bis es für Sunny schließlich an der Zeit gewesen war, aufzubrechen. Biancas Angebot sie zu begleiten, hatte Sunny dankend abgelehnt. Aus irgendeinem Grund war es ihr wichtig gewesen, allein nach Karlsruhe zu fahren, vielleicht, um ihre Gedanken noch ein wenig zu sortieren, vielleicht aber auch um sich zu beweisen, dass sie das allein konnte. Sie wusste es selbst nicht genau.
Fee hatte von all dem zum Glück nichts mitbekommen, denn ihre Mutter hatte ihren Ausflug mit dem Kind kurzerhand bis in die Abendstunden verlängert. Bei dem Gedanken an ihre Mutter musste Sunny unwillkürlich lächeln. Maria Decker war für ihre Töchter von jeher der sprichwörtliche Fels in der Brandung gewesen. Als Sunny im vergangenen Jahr von Svens Affäre erfahren und sich Hals über Kopf von ihm getrennt hatte, war es daher überhaupt keine Frage gewesen, dass sie mit Fee in das Haus ihrer Mutter zurückkehrte.
Sunny wurde jäh aus ihren Gedanken gerissen, als Esther Marquart die Tür neben ihr aufriss und schwungvoll auf den Flur hinaustrat. Die Frau war wirklich erstaunlich. Sie strahlte eine Energie aus, die Sunny richtiggehend neidisch machte. Jetzt nickte sie ihr lächelnd zu, und Sunny folgte ihr den Gang entlang und ein Stockwerk nach oben in einen Konferenzraum von circa 30 qm Größe, in dessen Mitte mehrere Tische zu einer großen Arbeitsfläche zusammengeschoben worden waren. An der Wand gegenüber der Fensterfront hingen vier große Whiteboards. Außerdem gab es zwei Flipcharts, einen Beamer und einen alten Overheadprojektor.
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