Sonntag, 08. Mai 2016, 11:50 Uhr Waldstück in der Nähe von Landau/Pfalz
Sunny war mittlerweile recht gut trainiert und lief die 10 km in deutlich weniger als einer Stunde. Darum – und weil sie die Übelkeit eigentlich schon zuhause in sich hatte aufsteigen spüren – erhöhte sie ihr Tempo weiter. Sie lief gegen die Übelkeit und den Brechreiz an, die sie seit beinahe anderthalb Stunden quälten.
Ich werde nicht auf meine Laufrunde kotzen ,
dachte sie verbissen. Doch in ihrem Kopf dröhnte es.
Po-ly-trau-ma, Po-ly-trau-ma, Po-ly-trau-ma .
Sie kannte das schon. Ab einem gewissen Grad der Anstrengung schaffte sie es nicht mehr, ihre Gedanken willentlich zu steuern. Ihr Gehirn nahm sie dann mit auf eine Reise durch ihre eigenen Assoziationen. Trotzdem startete sie einen Versuch.
Hör auf, hör auf, hör auf. Na bitte .
Es funktionierte. Aber Sunny wusste, dass sie all ihre Konzentration darauf würde verwenden müssen, dass ihre Gedanken nicht wieder dahin abglitten, wo es dunkel und fürchterlich war. Sie durfte sich jetzt noch keinen Triumph gönnen. Das schlechte Gefühl ließ zwar langsam nach, war aber noch immer da und lauerte aufs Neue hinter jedem Stein und jeder Unebenheit. Ihr brauner Pferdeschwanz wippte im Takt ihrer Schritte auf und ab, sodass ihre Haarspitzen im immer gleichen Rhythmus auf ihren verschwitzten Nacken tippten, was sie normalerweise ganz wahnsinnig machte, ihr heute aber, genau wie ihre Atmung und ihre Schritte, half, ihre Gedanken unter Kontrolle zu halten. Obwohl sie wusste, dass der direkte Heimweg von hier aus noch über zwei Kilometer betrug, bog sie nach links ab und verlängerte ihre gewohnte Runde so um dieselbe Strecke. Sie lief und lief und lief vor den Bildern davon, die sie verfolgten, um sich in ihr Gehirn einzubrennen, seit die beiden Polizisten am Morgen bei ihr gewesen waren.
Kurz nach 9 Uhr hatte das Telefon geklingelt, und eine Frau, die sich ihr als Kriminaloberkommissarin Esther Marquart vorstellte, hatte ihr erklärt, dass sie sich zusammen mit einem Kollegen auf dem Weg zu ihr befände und einige Fragen an sie habe. Soweit Sunny sich erinnern konnte, hatte die Frau sie nicht gefragt, ob sie Zeit habe oder zu einem Gespräch bereit sei. Sie hatte sie lediglich auf polternd-autoritäre Art darüber informiert, dass ein solches in weniger als einer halben Stunde stattfinden würde, ohne dabei Anstalten zu machen, ihr den Grund hierfür zu nennen. Wenn sie ihre kleine Tochter Felicitas, die in genau diesem Moment bereits im Auto ihrer Mutter saß, nicht noch durch das Fenster hätte sehen können, wäre sie wahrscheinlich auf der Stelle vor Schreck und Sorge um ihr Kind tot umgefallen. Aber was kümmerte das Kriminaloberkommissarin Esther Marquart, deren Beamtengehalt jeden Monat pünktlich überwiesen wurde? Sunny hatte den Telefonapparat beiseite gelegt und verächtlich das Gesicht verzogen.
Es braucht die Bullen nicht zu wundern, dass keiner sie mag .
Weil ihr ja aber nun nichts anderes übrig geblieben war, als ihren geplanten Waldlauf zu verschieben, hatte sie sich eine Tasse Kaffee genommen und sich an den Küchentisch gesetzt, um zu warten. Sie wäre in diesem Moment wirklich gerne gelaufen, denn ihr Schädel hatte noch vom vielen Rotwein gebrummt.
Unweigerlich waren ihre Gedanken zu Thomas gewandert, der ihr gestern Abend mal wieder über den Weg gelaufen war. Seit sie vor etwas über einem halben Jahr mit Fee zurück zu ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester Bianca gezogen war, baggerte er sie ständig an. Immer vorausgesetzt natürlich, seine Alte war nicht in der Nähe. Vor Jahren hatte er sie wegen der Tussi sitzen lassen und jetzt dachte er wohl, sie hätte die ganze Zeit nur darauf gewartet, als Zweitfrau wieder in seine Arme sinken zu dürfen. Gut, sie war tatsächlich wieder mit ihm ins Bett gegangen, aber nur zweimal und nur aufgrund einer gefährlichen Mischung aus Alkohol und Rachlust. Zwischenzeitlich bereute sie das wirklich, denn das Gefühl, ihn jederzeit haben zu können, das sie anfangs genossen hatte, hatte sich heimlich und schleichend in das genaue Gegenteil verkehrt: in die Gewissheit, dass er sie hatte haben können.
Gestern auf der Geburtstagsfeier hatte er sie mit verstohlenem Blick in Richtung der Tür, durch die seine Tussi gerade entschwebt war, gefragt ob sie mit dem Auto da sei und dabei dreckig gegrinst. Was er damit gemeint hatte, hatte Sunny nur zu genau gewusst. Sie war innerhalb einer Sekunde rasend wütend geworden und hatte ihm zugezischt, er solle verschwinden. Er aber hatte sich mit diesem verständnislos-beleidigten Blick getrollt, den sie noch von früher kannte, und der ihr, zumindest im Nachhinein, deutlich machte, dass ihre Wut auf ihn nach so langer Zeit vielleicht doch etwas unverhältnismäßig war. „Verdammte Ausbildung“, murmelte Sunny vor sich hin und nahm einen weiteren großen Schluck Kaffee, den sie kurz im Mund behielt, um seinen Geschmack voll auszukosten. Sie hatte sich im Zuge der Psychotherapeutenausbildung, die sie nach ihrem Psychologiestudium absolviert hatte, stundenlang eingehend mit sich selbst beschäftigen müssen:
Sunny als Kind und als Heranwachsende, Sunnys zu dicker Hintern, Sunny von oben, von unten und von der Seite, Sunny mit und ohne Kirschen und blablabla .
Sie hatte ihre Ausbildung nicht gemocht und letztlich nur aufgrund äußerer Zwänge absolviert. Noch immer konnte sie die beschwörende Stimme ihrer Mutter hören: „Kind, ohne Approbation, um Himmels Willen, Kind da bist du doch gar nicht konkurrenzfähig!“
Die Langeweile, die sie in jedem einzelnen der Seminare, die sie hatte besuchen müssen, verspürt hatte, hatte ihr recht gegeben. Das Ende vom Lied war nun aber jedenfalls, dass sie sich selbst viel besser kannte, als sie es jemals gewollt hatte. Sie konnte es meist recht schnell und zuverlässig erkennen, wenn ihre eigenen Reaktionen mehr mit ihr selbst als mit der aktuellen Situation zu tun hatten. Aber die Freiheitsgrade, die ihr dieses Wissen hätte verschaffen sollen, blieben reine Theorie, denn es war nun einmal nicht Sunnys größtes Talent nachzudenken, bevor sie handelte. Und so musste sie sich meist damit abfinden, dass sie den gleichen Mist machte wie alle anderen und hinterher noch nicht einmal die Verantwortung auf die äußeren Umstände schieben konnte, sondern sie zähneknirschend selbst übernehmen musste.
Wenigstens kann ich mich verstehen ,
versuchte sie sich manchmal zu trösten. Was Thomas betraf, war die Lektion relativ einfach. Sunny wusste genau, warum sie ihn hasste. Doch noch ehe es ihren Gedanken möglich war, zum tausendsten Mal in Richtung dieses Themas zu wandern, was ihr den Morgen mit Sicherheit endgültig vermiest hätte, nahm sie schnell einen weiteren Schluck Kaffee und zwang sich, an etwas anderes zu denken.
Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass Frau Kriminaloberkommissarin Esther Marquart bereits zehn Minuten überfällig war, aber darauf kam es jetzt auch nicht mehr an. Ihre Laune war dank Thomas ohnehin schon im Keller.
Was also soll jetzt noch kommen, das es noch schlimmer machen könnte?
Doch noch im selben Moment klingelte die Antwort auf diese Frage an der Tür mit dem selbst gemachten, hölzernen „Herzlich willkommen bei Familie Decker“- Schild, das von einem hart erarbeiteten Idyll zeugte, welches eben jetzt wieder einmal auf eine ernste Probe gestellt werden sollte.
Sunny bat die Marquart und ihren Kollegen in die Küche, wo sie sich an den massiven Tisch setzten, an dem sich ein Großteil ihres Familienlebens abspielte. Sie schenkte Kaffee ein und ließ sich den Beamten gegenüber nieder, die sie ebenso forschend musterten, wie sie die beiden. In Situationen wie dieser, wenn sie weder wusste, wie ihr Gegenüber zu ihr stand, noch was auf sie zukam, hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, heimlich psychopathologische Befunde ihrer Gesprächspartner zu erstellen, wie sie es zu Beginn jeder Therapie routinemäßig bei ihren Patienten tat. Vordergründig machte ihr das Spaß und verlieh ihr eine gewisse Befriedigung und Macht. Aber eigentlich, so wusste sie, half es ihr vor allem dabei, nicht vor lauter Verunsicherung schreiend davonzulaufen.
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