Frau mit gepflegtem, jugendlich-sportlichem Äußeren ,
begann es in Sunnys Kopf zu arbeiten.
Freundlich und kooperativ, dabei aber etwas burschikos und dominant. Spricht laut. Wach und orientiert. Kein Anhalt auf Konzentrations- und Gedächtnisstörungen. Antrieb und Psychomotorik weitestgehend unauffällig, leichte Tendenz zur Ungeduld, leichte Agitiertheit. Affekt weitestgehend unauffällig, stellenweise etwas gereizt. Punktuell umständliches Denken und Vorbeireden. Kein Anhalt auf Wahn, Sinnestäuschungen oder Ich-Störungen, jedoch thematische Einengung auf das Thema Verbrechen. Kein Anhalt auf Eigen- oder Fremdgefährdung .
Sunny musste zugeben, dass sie streng sein musste, um überhaupt etwas zu finden, das sie in den Befund der Marquart packen konnte. Die Frau machte leider einen geistig völlig gesunden Eindruck. Irgendwie war ihr die Polizistin sogar fast sympathisch. Sie war in ihrem Alter und hatte eine schlanke Figur. Ihr langes dunkles Haar fiel glatt über die Schultern und den Rücken. Sie trug wenig, gezielt angebrachtes Make-Up. Tatsächlich fand Sunny, dass die Marquart mit ihrem hübschen runden Gesicht eine gewisse Ähnlichkeit mit der Gitarristin der Muppet-Show hatte. Dabei war sie etwas größer als Sunny selbst, die ihrerseits immerhin 1,73 m maß. Sie trug eine zerknitterte Jeanshose, wie man sie auch in Sunnys Schrank hätte finden können, und eine speckige schwarze Lederjacke, die ihre besten Tage vermutlich irgendwann in den frühen Achtzigern gefeiert hatte. Sie hatte eine für eine Frau ungewöhnlich tiefe, rauchige Stimme. Außerdem erinnerten ihre kantigen Bewegungen sie angenehm an ihre Schwester Bianca. Sunny glaubte deutlich zu erkennen, wie sehr die andere um ein sicheres, Vertrauen erzeugendes Auftreten bemüht war und vermutete, dass hinter diesem Verhalten eine gehörige Portion Unsicherheit steckte.
Warum eigentlich? ,
fragte sie sich, doch dann kam ihr der Gedanke, dass der Kollege wahrscheinlich kein echter Kollege, sondern ein Vorgesetzter war. Diese Vermutung lag nahe, denn obwohl Sunny sich nicht mehr an den Dienstgrad erinnern konnte, den er ihr genannt hatte, war er doch mindestens zwanzig Jahre älter als sie und die Marquart. Außerdem strahlte er im Gegensatz zu dieser echte Sicherheit und Ruhe aus. Die Marquart wollte wahrscheinlich nicht nur vor ihr, sondern vor allem vor ihm eine gute Figur machen. Gerade als Sunny ansetzen wollte, um seinen Befund zu erheben, ergriff die Marquart das Wort.
„Okay, Ihr Name ist also Sandra Decker, wohnhaft hier in der Schillerstraße 14 in Offenbach. Ihr Geburtsdatum ist der 20.07.1981. Sie sind 34 Jahre alt, und Sie sind verheiratet mit Herrn Sven Kugler.“ Die Polizistin sah sie forschend an.
„Mhm“, Sunny presste die Lippen aufeinander, „nett, dass Sie mich an einem Sonntagmorgen daran erinnern.“
Im gleichen Moment bereute sie ihre Bemerkung.
Was, wenn Sven etwas zugestoßen ist? Was, wenn die Polizisten wegen ihm hier sind? Sven ist zwar unbestritten ein Arschloch, aber das müssen die ja nicht unbedingt von mir erfahren .
Zu ihrer Erleichterung sah Sunny dann aber, dass die Polizistin breit grinste.
„Sie haben eine gemeinsame Tochter: Felicitas, zwei Jahre alt. Von Beruf sind Sie Psychotherapeutin. Stimmt das soweit?“
Während Sunny nickte, fröstelte es sie leicht. Es war unglaublich, was diese Polizisten scheinbar mühelos über sie in Erfahrung hatten bringen können. Gut, nichts von alledem war geheim, und als sie darüber nachdachte, wurde ihr schnell klar, dass fast all diese Informationen in irgendwelchen offiziellen Datenbanken hinterlegt waren.
Aber trotzdem .
Sunny fand das gruselig. Sie war froh, als Esther Marquart sie anlächelte.
„Keine Sorge, Frau Decker, wir sind die Guten.“
Sunny musste unwillkürlich ebenfalls lächeln.
„Okay. Nachdem die Formalitäten geklärt sind, kommen wir nun zu dem eigentlichen Grund unseres Besuches.“
Die Polizistin hielt kurz inne und sah Sunny ernst an.
„Es geht um eine junge Frau namens Anna Henkes, die Ihnen nach unserem Wissen gut bekannt ist?“
Die Frage musste, ebenso wie alle zuvor, rhetorischer Natur gewesen sein, denn allein dass Sunnys Mimik bei der Erwähnung von Annas Namen sofort einfror, genügte offenbar als Antwort. Esther Marquart berichtete ihr in groben Zügen, was vorgefallen war. Anna war am frühen Morgen tot in ihrer Wohnung aufgefunden worden. Die Situation vor Ort und die Leichenschau hatten aber deutliche Hinweise darauf ergeben, dass es sich bei der Todesursache um ein Polytrauma handelte, also eine Kombination schwerster, gleichzeitig entstandener Verletzungen, verursacht durch einen Sturz aus großer Höhe, vermutlich aus einem Fenster ihrer eigenen Wohnung im dritten Obergeschoss eines Karlsruher Altbaus. Diese widersprüchliche Sachlage warf natürlich viele Fragen auf.
Sunny war es, als würden die Worte der Polizistin sie ohne Vorwarnung unsanft irgendwohin katapultiert, wo sie ganz allein inmitten eines dichten Nebels zurückblieb. Sie fühlte sich augenblicklich völlig verwirrt und hilflos. Verwirrung und Hilflosigkeit umhüllten sie. Sie war Verwirrung und Hilflosigkeit. Für den Bruchteil einer Sekunde meinte sie sogar, sich selbst inmitten dieses Nebels umherirren zu sehen, zu sehen wie sie sich hektisch immer wieder nach rechts und links drehte und doch nichts erkennen konnte, als eben diesen weißen undurchdringlichen Nebel. Sie meinte spüren zu können, wie die Räder, die ihren Verstand hätten antreiben sollen, immer wieder ins Leere griffen oder an etwas abglitten oder wie von unsichtbaren Fäden gehalten wurden oder was auch immer. Es war eigentlich vollkommen egal. Ihr Verstand arbeitete zu langsam, als dass sie vernünftige Fragen hätte stellen können, die ihr geholfen hätten, die Schwaden, die ihr die Sicht nahmen, zu vertreiben. Immer noch keines klaren Gedankens fähig, gelang es Sunny endlich, abwehrend die Hände zu heben. Diese Geste wiederum schien einigen Worten den Weg zu bahnen, die wie von selbst aus ihrem Mund kamen.
„Was? Halt. Langsam. Ich … langsam, bitte“, stotterte sie.
Sie kam nun Wort für Wort wieder zu sich, als könnte sie sich entlang eines Seils aus Silben in die Realität zurück hangeln. Esther Marquart war in der Zwischenzeit hektisch aufgestanden und hatte ein Glas Wasser vor sie auf den Tisch gestellt, während sie irgendetwas von „Schock“ und „gut tun“ murmelte. Sunny, die mittlerweile nur noch von einigen wenigen Nebelschwaden umgeben war, sich aber noch unangenehm benommen fühlte, wurde jetzt mit einem Schlag hellwach.
„Ich hab keinen Schock, aber wenn ich einen hätte, dann wäre das mit Sicherheit Ihre Schuld. Wissen Sie überhaupt, was das ist, ein Schock?“ Ihre Stimme überschlug sich beinahe.
„Aber ich hab keinen Schock. Ich will einfach nur, dass Sie mir das Ganze in einem normalen Tempo erzählen und mich nicht so überrollen. Und wenn ich dann einen Moment brauche, dann wird mir gleich ein Schock angehängt. Am besten, ich nehme noch irgendwas zur Beruhigung, damit ich nicht merke, wie scheiße das hier alles ist.“
Sie klang ungewohnt schrill, und Sunny erschrak ein wenig über sich selbst. Normalerweise hatte sie sich besser im Griff. Es war nicht ihre Art, ausfallend zu werden und eigentlich war sie darauf bisher auch stolz gewesen.
„‘Tschuldigung“, murmelte sie daher nun etwas kleinlaut. „Ich bin auf einmal echt müde. Was ist also passiert? Anna ist tot. Und was … warum … ich meine, wie kann ich Ihnen denn jetzt helfen? Wir hatten nämlich wirklich schon lange keinen Kontakt mehr. Ich habe Anna kurz vor meiner Hochzeit das letzte Mal gesehen, und das war quasi in einem anderen Leben.“
Je mehr sie sprach, desto mehr fand Sunny zu ihrer gewohnten Form zurück. Die Müdigkeit verflogen langsam.
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