Als sie gegen 5 Uhr heute Morgen vom Klingeln ihres Telefons aus dem Schlaf gerissen worden war, und Manfred ihr mitgeteilt hatte, dass er sie in 20 Minuten abholen würde, war Esther noch hundemüde gewesen, denn nach der Festnahme von Anna Henkes‘ derzeitigem Freund, die sie mitten in der Nacht vorgenommen hatten, war sie viel zu aufgekratzt gewesen, um nach Hause zu gehen und sich schlafen zu legen. Abgesehen davon hatte es einfach noch zu viele Ungereimtheiten gegeben, und sie war alles andere als zufrieden gewesen. So hatte sie bis nach 2 Uhr zunächst über dem Obduktionsbericht und dann über den Schriftstücken, die sie in der Wohnung der Toten sichergestellt hatten, gesessen. Schließlich hatte sie aber doch Feierabend gemacht, wenn auch nur, weil sie gewusst hatte, dass sie es nur durchhalten würde, diesen Fall gemeinsam mit Manfred als dessen rechte Hand zu bearbeiten, wenn sie sich ihre Kräfte einteilte. Mit Sicherheit würde sie ihren neu gewonnenen Status noch bitter mit Freizeit und Nachtschlaf bezahlen müssen.
„Jan Liebig“, sagte Manfred nur, als Esther zu ihm in den Wagen stieg.
„Will der jetzt etwa doch reden?“
Esther musste ein Gähnen unterdrücken. Sie wunderte sich zwar nicht wirklich über den Sinneswandel des Verdächtigen, denn eine Nacht in Haft konnte immer wieder Wunder bewirken, wohl aber darüber, dass Manfred gewillt war, den Wünschen Jan Liebigs so früh am Morgen nachzugeben.
„Ja. Aber nicht mit uns. Er brüllt schon seit über einer Stunde rum, er wolle Sandra Decker sprechen. Und bevor ich hier irgendetwas entscheide, will ich wissen, was da los ist.“
Esther war völlig verwirrt. Jan Liebig wollte mit Sandra Decker sprechen.
Aber die beiden kannten sich nicht, das hatten sowohl er als auch die Decker bestätigt.
Es war kurz nach 6 Uhr, als sich Esther, Manfred und Jan Liebig schließlich gegenüber saßen. Der Verdächtige wirkte völlig überdreht. Vermutlich hatte er die ganze Nacht kein Auge zugemacht.
„Guten Morgen, Herr Liebig. Wie ich höre, wollten Sie uns sprechen?“, begann Manfred höflich.
„Nee, wollte ich eigentlich gar nicht“, war die patzige Antwort.
„Nun gut, dann lassen Sie es mich anders formulieren. Wie ich höre, haben Sie einen Wunsch. Also bin ich mit meiner Kollegin hierhergekommen, um von Ihnen persönlich zu erfahren, was es damit auf sich hat?“ Manfred lächelte geduldig.
„Ja schon. Sie wollen jetzt also von mir hören, was ich will?“
Manfreds höfliche Art irritierte Jan Liebig sichtlich. Er schien für einen Moment nicht zu wissen, wohin mit seiner aggressiven Energie, die ihn zunächst hatte vorwärts preschen lassen.
„Ich will mit der Sunny sprechen. Mit der Sunny Decker. Mit der Psychologin. Mit der Psychosunny.“
Manfred nickte.
„Okay, Herr Liebig. Sie verstehen sicher, dass ich mit diesem Wunsch meine Schwierigkeiten habe.“
Er hob beschwichtigend beide Hände, denn Jan Liebig hatte schon wieder begonnen ihm vernichtende Blicke zuzuwerfen und sichtlich empört nach Luft zu schnappen.
„Nein, verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich finde Ihr Anliegen durchaus legitim. Warum sollten Sie nicht mit Frau Decker sprechen? Natürlich dürfen Sie grundsätzlich mit ihr sprechen. Das Problem dabei ist nur, dass es letztlich Frau Deckers Entscheidung ist, ob sie mit Ihnen sprechen will. Ich kann da höchstens als Mittelsmann fungieren. Und das kann ich eben nur dann vernünftig, wenn Sie mir sagen, was Sie von der Dame wollen.“
Jan Liebigs Züge hatten sich zunächst entspannt, jetzt blickte er aber wieder finster drein.
„Sagen Sie mal, halten Sie mich eigentlich für völlig bekloppt? Das glaubt Ihnen ja kein Mensch. Natürlich können Sie der einfach sagen, dass ich mit ihr sprechen will, und die entscheidet dann selber. Da brauchen Sie doch gar nix zu wissen.“
„Aber vielleicht würde Frau Decker sich ja eher zu einem Gespräch bereit erklären, wenn sie wüsste, was auf sie zukäme“, argumentierte Manfred gleichbleibend freundlich. „Und ja, natürlich haben Sie recht damit, dass ich nicht wissen muss, was Sie von ihr wollen. Aber Sie können doch nicht allen Ernstes glauben, dass ich die Frau einfach so hierher hole und dann dafür gerade stehe, wenn Sie ihr irgendeinen Blödsinn erzählen?“ Manfred lächelte noch immer. „Ich müsste mich da ja sowieso auf Ihr Wort verlassen, und das würde ich auch tun. Aber einen Fingerzeig bräuchte ich schon.“
„Boah“, stöhnte Jan Liebig genervt, „also gut. Ich versprech‘, dass ich nicht gemein zu eurer Frau Decker bin.“ Er zog den Namen provokativ in die Länge. „Ich will bloß mit der sprechen, über die Anna und wie das am Schluss alles war.“
Manfred war hellhörig geworden und sah Jan Liebig forschend an, was diesem nicht entging.
„Ja, wenn ihr mir die Sunny herbringt, die ist ja immerhin Psychologin, mit der würd‘ ich sprechen. Der würd‘ ich erzählen, was da gestern passiert ist. Was ich da gemacht hab‘ und so.“
Seufzend griff Esther nun zum Telefonhörer und wählte Sunnys Nummer.
„Decker“, die Stimme am anderen Ende der Leitung klang zwar verwundert, aber Gott sei Dank nicht schläfrig. Sunny Decker war es ganz offensichtlich nicht gewohnt so früh am Morgen gestört zu werden, aber zumindest war sie schon wach gewesen.
„Guten Morgen Frau Decker, hier ist Esther Marquart. Bitte verzeihen Sie die frühe Störung. Ich rufe Sie an, weil ich eine Bitte an Sie habe, die keinen Aufschub duldet.“
„Andererseits merkte man aber, wenn man Anna näher kennenlernte, recht schnell, dass sie schon in jungen Jahren unglaublich reflektiert war. Ich weiß, dass sich meine Ausführungen widersprüchlich anhören, dass das nicht zusammenzupassen scheint. Aber wahrscheinlich spiegeln sie einfach nur wieder, wie facettenreich Anna war, und dass sie scheinbar widersprüchliche Seiten in sich vereinte. Vielleicht wirkte Anna deswegen auch oft ein wenig planlos, weil sie viel mehr Dinge bedachte, wenn sie eine Entscheidung zu treffen hatte, als andere Kinder ihres Alters. Die Anna von damals war nicht impulsiv. Gerechtigkeit war ihr über alle Maßen wichtig. Sie hätte sich niemals vorschnell eine Meinung zu irgendetwas oder über irgendjemanden gebildet. Sie betrachtete die Dinge immer von allen nur erdenklichen Seiten. Während wir anderen alles daransetzten, äußerlich erwachsen zu wirken, in unseren Herzen aber noch Kinder in einer schwarzweißen Welt waren, hatte die auf den ersten Blick noch sehr kindlich erscheinende Anna eine Reife, die wir anderen nur erahnen konnten.
Karlsruhe, 27. Dezember 2013
My Sunny One,
Weihnachten war trostlos. Meine Schwester war mit ihren drei verklebten Bälgern der Mittelpunkt des Abends. Und auch im Bekanntenkreis meiner Eltern sind alle glücklich und perfekt. Ich konnte den Blick meiner Mutter kaum ertragen, als sie mir erzählt hat, welche biedere Tochter welcher verknöcherten Freundin schon wieder schwanger ist oder wo demnächst ein rauschendes Hochzeitsfest ins Haus steht. Meine einzige Leistung ist die, mehr Rotwein zu vertragen, als alle anderen zusammen. Hurra.
Aber das Beste kommt noch: Susanne bekommt ein Kind von Martin. Und ich kotze.
Auch mein Lover kann mich in diesen Tagen nicht trösten. Und wo bist Du? WO BIST DU? Verdammt, ich bin hier allein und verzweifelt und verlassen, und Du bist nicht da! Niemand ist da.
Immer wenn es regnet,
Deine Anna
Montag, 09. Mai 2016, 9:00 Uhr Dienstwagen von Esther Marquart, A 65, Fahrtrichtung Karlsruhe
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