Damit begegnen wir dem Ende, das doch nur am Anfang eines neuen Endes steht. Da das Ende den Anfang gebären und der Anfang die Voraussetzungen für das Ende bereitstellen muss, ist das Universum das Ziel, das im Narren als geistige Anlage vorhanden ist. Mit anderen Worten: Vergangenheit und Gegenwart sind beide gleich wirklich, denn das Ende ist der Anfang. Und ebenso kann man den Anfang als das Ende bezeichnen, denn das Ende ist immer wieder ein neuer Anfang eines weiteren Endes, das auf einer anderen Ebene ein immer weiteres Ende eines neuen Anfangs voraussetzt.
Im philosophischen Sinne können wir in dem Anfang, der sein Ende keimhaft in sich trägt, das Wirken des Gleichgewichtsprinzips in allen Wegen der Natur erkennen. Im Grunde können wir niemals von unserem eigentlichen Weg abweichen, wie falsch wir auch immer von einem begrenzten Gesichtspunkt aus gesehen handeln mögen. Der Narr beseitigt die Grenzen zwischen Innen und Außen, zwischen Ego und Umwelt, denn er ist die innere Mitte, gleichsam der Nabel der Schöpfung. Aus diesem Grunde birgt schon er allein das gesamte Potential und das endgültige Ziel aller zweiundzwanzig Großen Arkana des Tarots in sich. Er zeigt uns die Daseinsebene an, von der aus wir uns von allen überkommenen Bildern und Verstrickungen befreien können, um uns ganz leer und empfänglich für das Unbekannte zu machen. Mit dieser Karte schlagen wir eine neue Seite im Buche des Lebens auf!
Der Narr steht sowohl für das Nichts an der Schwelle zum Werden wie auch die grenzenlose Leere des Alls, die am Ende jeder Entwicklung das Sein wieder in sich aufnimmt. Er ist ein Bote reiner, ungefilterter Wahrheit aus dem Zwischenreich zwischen Tod und Geburt. Er ist der schöpferische Wille, der noch keine Absicht, Richtung und Struktur kennt. Er stellt die schöpferische Potenz des in sich selbst ruhenden absoluten Nichts dar. Dieses gebiert die Ur-Idee, deren ideelle Atome sich in der nächsten Karte (I Der Magier) zu geistig-materiellen Verdichtungen gruppieren. Doch dazu bedarf es der kosmischen Dimension der Zeit. Sie ist der Geburtskanal, durch den das zum Leben berufene Geschöpf ausgetrieben wird.
Im Narren liegt auch jene Kraft, die poetisch als göttliches Urvermögen, esoterisch als kosmische Strahlung, physikalisch als elektromagnetische Schwingung und psychoanalytisch als Libido umschrieben wird. Auf der Ebene des Bewusstseins entspricht ihr ein Zustand, der die Gegenwart des Nichts in göttlichen Schauern spürbar werden lässt und gleichzeitig die Sehnsucht nach der Verschmelzung mit der Ewigkeit zum Ausdruck bringt. Dieser Zustand wird beispielsweise in erotischen Gipfelerlebnissen und durch die Erfahrung der Kundalini-Energie im Yoga erlebbar. Die darin wirkende Energie entäußert sich im physischen Schöpfungsakt, was symbolhaft in der Karte des Magiers seinen Ausdruck findet.
In der Frau, die dem Narren ihr Gesäß aufreizend entgegenstreckt, begegnen wir einer frappierenden Variante der Urmutter. Durch sie kehrt die Menschheit, die sich im letzten Großen Arkanum des Tarots (XXI Das Universum) zu Gott erhebt, in einer Art Endlosschleife zur Erde zurück. Auch diese Phase im Werden des Lebens gehört zum universalen Schöpfungsakt. Der Entwicklungsweg des Lebens verläuft spiralförmig: immer im Kreise, aber dabei in die Höhe und deshalb – im übertragenen Sinne – auch „vorwärts“. So ist auch auf der letzten Karte das Raumschiff, das sich von der zerstörten Erde aus in eine bessere Zukunft erhebt, gleichzeitig das Gesicht der Großen Göttin, durch deren Mund der Mensch wieder zu den Ursprüngen (0 Der Narr) zurückgelangt. 2Wohin er auch flüchtet, er kommt immer nur bei sich selbst an! Deshalb ist die Mutter überall und in allem, sie ist gleichsam das Alpha und Omega des Menschen.
Der Narr erschießt sich selbst, und zwar bezeichnenderweise an der Schwelle zum Ziel seiner Wünsche. Hier bricht für ihn die geheimnisvolle Tiefe der nebelhaften Ursprünge des Lebens auf, die alles Sein in immer neue Kataklysmen von Zerstörung und Neubildung führt. Trotz der Gebundenheit des Narren an die dunklen Aspekte des kosmischen Geschehens trägt aber nicht er allein den kollektiven Schatten der Menschheit, der die zerstörerische, furchtbare Urgewalt des reinen Seins enthält. Vielmehr ist es eher so, dass sein individuelles Bewusstsein und seine persönliche Existenz – um es in den Worten von Alan Watts zu sagen – nichts weiter sind als ein Gesichtspunkt, den sich eine nicht messbare Größe vorübergehend zu eigen macht.
So rät das Ungeborene dem Helden, wenn es ihm auf der Instinktebene der männlichen Triebnatur begegnet: Blick nicht zurück, denn es sind immer dieselben aus Kain gezeugten Bedürfnisse nach Krieg und Streit, und sie nur anzuschauen wäre schon wieder ein alter Anfang eines immer wieder neuen Verderbens: das einer perversen und sich selbst zerstörenden Welt!
Der Hintergrund
Der Anfang ist das Ende
Wir können nicht wissen, womit ein Entwicklungsvorgang wirklich beginnt. Wir wissen nur, wann er sich das erste Mal für uns zu erkennen gibt. Da wir nicht wissen, was der Anfang ist, dafür aber wissen, was für uns das erste Mal ist, gilt uns das erste Mal immer als der Anfang. Ebenso können wir davon ausgehen, dass das Ende des ersten Mals immer der Anfang des zweiten Mals ist, da jeder neue Anfang im vorigen seinen Keim und Bezugspunkt hat. Das Ende des einen ist also immer der Anfang des anderen. Was wir in jenem erreicht haben, setzt sich in diesem anders fort, bleibt aber dennoch mit seinem Ausgangspunkt verbunden. So befindet sich der Mensch fortwährend zwischen einem Ende als Anfang und einem Anfang als Ende. Wenn er zurückblickt, kann er erkennen, dass durch jedes Ende ein alter Anfang hindurchreicht und sich spiralförmig auf ein neues Ende hin fortbewegt: Nichts ist mehr, wie es einmal war, und trotzdem ist es immer dasselbe. Der spanische Sufi-Meister Muhyîddîn Ibn Arabî sagte: Alles ist im göttlichen Atem enthalten, wie der Tag im Dunst des frühen Morgens.

Wir begegnen hier dem sich spiralförmig auf ein neues Ende hin bewegenden alten Anfang, einer neuen Seite im Buch des Lebens, deren Inhalt aber immer noch die Vision des Vergangenen transportiert. Je stärker wir im Alten verhaftet sind, desto schmerzhafter muss die dem Narren beschiedene Umwandlung sein, die durch die Karten XIII Der Tod, XV Der Teufel, XVI Der Turm und XX Das Gericht versinnbildlicht wird. Es kann dann dazu kommen, dass wir die Wandlung gar nicht oder nur unvollkommen vollziehen. Womöglich schlägt sich die schwache Psyche klammheimlich auf die Seite des Narren, ohne dass wir wirklich seine Ebene mit unserem ganzen Sein erreicht haben. In diesem Fall – wenn die überkommenen Gefühlsmuster noch nicht gelöscht sind – wirken sich die trümmerhaften Überreste des Alten auf das Neue aus, das in uns entsteht, und hemmen sein Gedeihen. Dann wird das Magnetfeld unseres Bewusstseins nur solche Erfahrungen anziehen, die das Scheitern schon in sich tragen – zumindest so lange, wie wir nicht die alten Muster im Feuer der neuen Erfahrungen restlos verbrannt haben. Erst dann sind wir im Scheitern gleichzeitig erlöst!
Wenn sich der Narr in seinem negativen Ausdruck als Selbsttäuschung darüber manifestieren kann, was du real erreichen willst oder als Bestreben, jede Auseinandersetzung zu umgehen, dann kann er in seinen positiven Erscheinungsmöglichkeiten die Kraft anzeigen, nach Dingen zu streben, die jenseits der Grenzen des Erfassbaren liegen. Das führt auf der inneren Ebene dazu, dass du dir durch das Erleben von tiefen, versteckten Gefühlen näher kommst und du dich allmählich von einengenden Zwängen befreien kannst. Du bist fähig, tiefer in dich hineinzuspüren, um deine eigenen Wünsche stärker wahrzunehmen, und hast den Wunsch, einen spirituelleren Umgang mit deinen inneren Bedürfnissen zu pflegen. Oft entsteht zwar ein sich Hinwegheben in den Himmel illuminärer Selbstbetäubung, besonders wenn du durch dein irrationales Verhalten der Welt zu entfliehen trachtest. Deshalb ist es für dich wichtig, deine persönlichen Eingebungen in die Wirklichkeit zu integrieren, Inhalte aus dem Unbewussten ans Tageslicht zu heben und dich in die Bedürfnisse deiner Umwelt einzufühlen, damit du in den eigenen Illusionen nicht ständig vor dir davonzulaufen brauchst. Denn erst, wenn du dich selbst aufgegeben hast, kannst du durch Nicht-Tun das große Spiel kontrollieren, das wir uns selbst erdacht haben.
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