Für die Ortsgeschichte von Kaufungen besitzen beide Rechtsakte, unabhängig von der keineswegs banalen Frage des Ortnachtrags, eine doppelte Bedeutung: Erstens handelt es sich um die früheste bekannte Erwähnung der Ansiedlung. Zweitens scheint der dortige Herrenhof im August 1011, zumindest kurzfristig, als königliche Unterkunft gedient und den nahen Königshof Kassel in dieser Funktion ergänzt, wenn nicht sogar abgelöst zu haben. Jedenfalls stellten die Notare beide Urkunden im Abstand von zehn Tagen in oder auf Kaufungen aus, wobei verschiedene Führungskräfte des Reichs im Gefolge des Königs weilten: 7Am 10. August waren dies zunächst der Hersfelder Abt Godehard, 8ein erfolgreicher, vom König sechs Jahre zuvor in sein Amt eingesetzter Reformer, 9der mit Begleitung entweder zum König ins nahe Kaufungen gereist war oder eine Strecke zusammen mit dem König zurückgelegt hatte, um sein Gesuch mit dem gebührenden Nachdruck zu verfolgen, ferner der Kanzler Gunther, der beide Ausfertigungen in Vertretung des Erzkaplans Erkanbald beglaubigte und die wandernde königliche Kanzlei repräsentierte, und schließlich Königin Kunigunde, die als Fürsprecherin Godehards auftrat und so ihre Verbundenheit mit der Reichsabtei Hersfeld zum Ausdruck brachte. 10Anwesend war vermutlich auch der Geistliche, der die Urkunde verfasste und niederschrieb, ein Kleriker aus Abt Godehards Umfeld. 11
2Königssiegel Heinrichs II., bis zum 1. Dezember 1013 in Gebrauch, Durchmesser 73 mm, Umschrift + HEINRICHVS D[E]I GRATIA REX (Heinrich von Gottes Gnaden König)
Spätestens zehn Tage später war auch Erzbischof Tagino von Magdeburg, Heinrichs enger Vertrauter seit Regensburger Zeiten, 12eingetroffen, falls er, wie zu vermuten ist, die Schenkung des Burgwards Dretzel an seine Kirche persönlich erbat und entgegennahm. Der treu Ergebene, der oft am Hof weilte, hatte den Herrscher immer nach Kräften unterstützt. So soll er 1007 auf der Frankfurter Allerheiligensynode als Erster für die Bistumsgründung in Bamberg votiert und damit die schwierige Entscheidungsfindung im Sinne seines Herrn und der Kaufunger Folgegründung beeinflusst haben. 13Unbekannt ist, ob sich damals noch andere führende Amtsträger in Kaufungen aufhielten, denn die Beglaubigungen solch einfacher Vorgänge listen keine Zeugen auf, nur die eigenhändige Bekräftigung, das Monogramm und den waagerechten Vollziehungsstrich des Königs samt seinem Siegelbefehl.
Präsent dürften noch die beiden Notare gewesen sein, die sich dem Aufsetzen der Texte und den Reinschriften widmeten. Der namentlich nicht bekannte Verfasser der Hersfelder Schenkung, wohl ein langjähriger Vertrauter Abt Godehards aus dessen Gefolge, hatte seit 1009 schon mehrere Königsdiplome für bayerische Benediktinerklöster aufgezeichnet; 14auch in den Folgejahren bis 1019 mundierte er noch Königsurkunden für Abteien im erweiterten Umfeld Godehards. Der von 1009 bis 1012 verbürgte Notar der Magdeburger Schenkung gilt als jener Trierer Kleriker und königliche Kapellan Walker, der an Weihnachten 1012 in Pöhlde erkrankte und dort, von Heinrich II. notgedrungen zurückgelassen, am 11. Januar 1013 starb. 15Für einige Jahre war er der meistbeschäftigte Amtsträger der Kanzlei, der den König auf vielen Reisen begleitete. Die Forschung bezeichnet ihn als GA, den ersten neu fassbaren Schreiber (A) unter Kanzler Gunther (G).
Die königliche Kanzlei war auch für die Besiegelung zuständig. Auch wenn das Wachssiegel auf anderen Diplomen ( Abb. 2) besser erhalten ist als in unserer Ausfertigung, folgte die Ausgestaltung festen Vorgaben. Das sog. Majestätssiegel zeigt den bärtigen Herrscher frontal auf seinem Thron sitzend, im Schmuck seiner Insignien, mit der Königskrone auf dem Haupt, dem Zepter in der rechten Hand und dem Reichsapfel oder Weltglobus in der linken Hand. Seine Füße ruhen auf einem Schemel; er selbst sitzt, mit einer Tunika und einem von einer Fibel auf der rechten Schulter zusammengehaltenen Mantel bekleidet, aufrecht auf einem gepolsterten Thron mit Armlehnen. Aus dieser idealisierten Darstellung ist freilich nicht auf sein Auftreten im Alltag, etwa in Kaufungen, zu schließen, aber das Typar genannte Prägewerkzeug für dieses Königssiegel aus Wachs, das bis zum 1. Dezember 1013 in Gebrauch war und die Siegelumschrift + HEINRICVS D[E]I GRATIA REX (Heinrich von Gottes Gnaden König) trug, begleitete ihn auf allen Reisen durch sein Reich. 16
Zu beachten ist zudem, dass die Formulierung und die Ausstellung eines Rechtsgeschäfts durchaus nicht immer am gleichen Tag mit der Vollziehung erfolgen mussten; vereinzelt ist der Vollziehungsstrich auf dem Pergament sogar nie erfolgt. Ein Auseinandergehen beider Handlungen könnte also vielleicht erklären, dass die zuletzt aufgeführten Worte actum Coufungon womöglich in beiden Fällen nachgetragen wurden.
Folgenschwer ist freilich die Vermutung, dass sowohl der Empfänger- als auch der Kanzleinotar oder sogar ein weiterer Schreiber den Ortsnamen in beiden Diplomen erst später hinzugefügt haben. Da nur noch das Hersfelder Original erhalten ist, können wir die verschiedenen Schreiberhände nicht mehr miteinander vergleichen. Die Verfasser, die den jeweiligen Rechtsakt zweifellos vorbereitet hatten, könnten den Ort der Ausstellung jeweils selbst in Kaufungen nachgetragen haben. In dieser frühen Phase der Kaufunger Entwicklung könnte man vermuten, dass die Notare bei der Niederschrift noch nicht wussten, ob die königliche Gesellschaft im August 1011 tatsächlich mehrere Tage oder gar mehrere Wochen in Kaufungen bleiben oder nicht etwa die baulichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen in Kassel bevorzugen würde. Denn zumindest der Kanzleiangehörige GA, der schon am 18. Juli in Trebur bei Heinrich weilte, 17dürfte im königlichen Gefolge mitgereist sein und muss daher die Reisepläne gekannt haben. Alternativ bliebe nur die unwahrscheinliche Lösung, dass er, im Wissen um das spätere Eintreffen des Erzbischofs, das Magdeburger Privileg einschließlich der Datumszeile schon vor der Ankunft im Kasseler Becken vorbereitet hatte.
Standort und Gründung der klösterlichen Gemeinschaft in Kaufungen
Die beiden im Abstand von zehn Tagen ausgestellten Diplome vom August 1011 entsprechen den üblichen Verwaltungstätigkeiten, die am Königshof jeweils vor Ort stattfanden und uns heute erlauben, die Reisebewegungen des Königs durch sein Land nachzuvollziehen. Selbst wenn der Ort nachgetragen wurde, bedeutet dies trotzdem, dass sich die früher in der befestigten Siedlung Kassel ausgeübten Dienstaufgaben nach Kaufungen verlagert hatten. Wir wissen allerdings nicht, warum Heinrich und Kunigunde die königliche Unterkunft von der geschäftigen Betriebsamkeit des Kasseler Wirtschaftshofes in den untergeordneten Nebenhof mit Wallburg verlegt haben, auch wenn in dessen Nähe der Königsforst des Kaufunger Waldes hervorragende Jagdmöglichkeiten bot. Unabhängig vom Kasseler Fronhof werteten sie damit langfristig den Nebenhof zum Grundstock der späteren Stifts- oder Klostergründung auf.
In der Forschung ist umstritten, ob der Kasseler Zentralhof bei diesem Vorgang zu einem Nebenhof herabgestuft und von der curtis Kaufungen aus verwaltet wurde oder ob der zentrale Wirtschaftshof weiterhin in Kassel verblieb, während nur die Pfalz nach Kaufungen abwanderte. Grundproblem ist, dass der Begriff curtis sowohl den Zentralhof mit einer Unterkunft für den König und seine engere Umgebung als auch die königliche Hofhaltung bezeichnen konnte. 18Zudem divergieren die historischen Begriffe für die königlichen Aufenthaltsorte, wobei curtis und villa eher einen grundherrschaftlichen Wirtschaftshof, castrum und castellum eine befestigte Anlage bezeichneten. Wenn der bekannte Geschichtsschreiber Thietmar von Merseburg also behauptet, dass der Kaiser 1015 in Kaufungen weilte, wohin er seinen Hof ( curtis sua ) aus der Stadt Kassel transferiert hätte, 19dann sind beide Deutungen möglich: die Verlegung des gesamten Wirtschaftshofes oder die Verlegung allein der Pfalz nach Kaufungen. 20
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