1 ...7 8 9 11 12 13 ...32 Die Lage war primitiver, einfacher, natürlicher geworden. Bis auf diese Augen.
Roger Sligh, M. D., segnete bei alldem seinen Entschluss, kraft dessen er den Patienten J. King in andere Hände abgeschoben hatte. Er konnte nicht in die Versuchung kommen, irgendeine ärztliche Pflicht zu versäumen. Aber er spielte Schach mit dem Gedanken, wie er Joe King zum Reden bringen könnte. Er sah ihn jeden Morgen und jeden Abend vor sich, obgleich er niemals mehr zu jener Klinik fuhr.
Roger Sligh verurteilte sich selbst, wenn er an die Stunden dachte, in denen er einmal verführt worden war, im eigenen Land etwas ganz Unpassendes zu tun. Er hätte diesen anderen Roger Sligh, den es auch gab und der plötzlich das Haupt erhoben hatte, hassen können. Doch wollte er ihn vergessen. Und er hasste nicht sein anderes Ich, er hasste den anderen, das Du, den Mann aus Fleisch und Blut, der ihn an sein zweites Ich erinnert hatte. Er musste es kennen. Woher? Wilde verschmolzen zwei Menschen in sich in eins, zwei Nervensysteme, das bewusst und das nicht bewusst reagierende. Roger Sligh aber blieb gespalten. Die offene Wunde in ihm stank Träume.
»Passen Sie auf sich auf, Sligh«, erlaubte sich der Verwaltungsdirektor eines Tages beim Whisky zu sagen. »Sonst bekommen Sie noch einen Koller.«
Sligh schaute aus dem Fenster. Schnee bedeckte unübersehbares Land, weit, weiß, kalt. Die Straßen waren schwer passierbar. Das Häuflein Beamte und Ärzte, das in der Öde zu hausen hatte, rückte zusammen.
Walker vermittelte Sligh eine Einladung zu dem Oberarzt der Fürsorge- und Säuglingsstation. Eine zwanglose Geselligkeit, deren Mittelpunkt früher Piter Eivie gewesen war, begann sich dort wieder einzuspielen. Sligh hatte den Oberarzt Roger Barn, der den gleichen Vornamen wie er selbst trug, bisher gemieden, eine Haltung, die auf Gegenseitigkeit beruhte. Aber da Walker einen größeren Kreis zugesagt hatte, entschloss sich Sligh, nicht etwa Einsiedelei zu demonstrieren, sondern die Einladung anzunehmen.
Die Reifen drückten Spuren in den Schnee. Es herrschte klirrende Kälte. Das Haus von Roger Barn wurde jedoch gut geheizt. Die Konstruktion der hölzernen einstöckigen Beamten- und Arzthäuser war in allem prinzipiell die gleiche, der Unterschied lag nur in einem Zimmer mehr oder weniger. Wer das Haus des anderen betrat, konnte sich, was Räumlichkeiten und ihre Anordnung anbetraf, immer wie bei sich selbst und ganz zu Hause fühlen. Die Inneneinrichtung bei Barn trug dennoch eine besondere Note, da er Navajo-Wolldecken und Hopi-Maskenpuppen gesammelt hatte. Die Farbenpracht, die sich über Couch und Sessel breitete, an den Wänden aufleuchtete, die fremdartigen Puppen, in denen Hopi-Hände mit ehrfürchtigem Bedacht den Glauben an die Vorfahren und den Glauben der Vorfahren Gestalt und Farbe hatten werden lassen und mit denen sie das Unwissen der weißen Männer ansprangen, ließen jeden Besucher sofort außer sich selbst und in ein fremdes Reich geraten. An einer gegen das Erdrückende der Farben und der Puppen abgeschirmten Wand hing eine Kohlezeichnung für sich allein, überhaupt als einzige ihrer Art in diesen Räumen. Sligh interessierte sich für diese Zeichnung, weil er den Indianerfarben und -masken den Rücken kehren wollte. Das Bild stellte das sehr zarte Antlitz eines Kindes, eines Mädchens, dar; der Ausdruck war schwermütig, abgewandt, ohne altklug zu wirken.
Sligh dachte sofort an Psychiatrie und wollte den Namen des Künstlers lesen. Er fand nur ein »Qu. K.« und erfuhr von Barn, dass es sich um eine Arbeitsskizze handelte. Das endgültige Bild war, in Öl ausgeführt, ausgestellt worden und unverkäuflich.
»Und wer ist ›Qu. K.‹?«
»Queenie King, die begabte Malerin unserer Reservation.«
Sligh fühlte sich durch diesen Namen verfolgt, wollte das vor sich selbst jedoch nicht zugeben.
»Queenie King? Doppelte Königin?«
»In jeder Beziehung, Doc!« Das sagte nicht Barn. Die Worte waren aus dem Klubsessel in der Ecke gekommen, in der Kate Carson, Dezernentin für das Wohlfahrtswesen, saß, eine füllige Vierzigerin, gepudert, nicht ohne Charme. Sligh, dessen gesamte Gefühlsstruktur in Bezug auf Frauen von neuem in Verwirrung geraten war, seit er die immer wieder verschneite, von Stürmen bedrohte Straße nach New City zu fahren sich scheute, ließ sich auf einem freien Stuhl neben Witwe Carson nieder und begann zu rauchen.
»Vielleicht wird das Ölbild auch noch verkäuflich«, bemerkte die zufriedene Witwe.
Es gab ein solides Büfett, ohne Phantasie zurechtgemacht. Barn holte für Mrs Carson, was diese sich seiner ärztlichen Auffassung nach wünschen sollte: Salat und etwas Krebsschwanz. Sie schmunzelte und aß.
Der Kreis der Gesprächsthemen war begrenzt. Dienstliches wurde nicht berührt. Eve Bilkins, Dezernentin für das Schulwesen, wollte sich einen neuen Wagen kaufen. Kate Carson hatte die jüngste Nummer einer Illustrierten im Hause Barn entdeckt. Mr Brown, Nachfolger des Dezernenten für Ökonomie Haverman, schaltete den Fernsehapparat an und verfolgte Eishockey.
Sligh holte Whisky für sich und Mrs Carson. Er fühlte sich bei dieser rundlichen, jedoch weder unschön noch dumm erscheinenden Person geborgen. Aus den vorsichtig geführten Unterhaltungen mit ihr und mit Walker erfuhr er, dass Kate Carson schon lange verwitwet, meist guter Laune, aber zurzeit eines geeigneten Gegenstandes ihrer unaufdringlichen, für sie selbst lebensnotwendigen privaten Fürsorge beraubt sei. Sie hatte ihren Kollegen-Gefährten Haverman, der versetzt worden war, verloren.
»Passen Sie auf, Doc, es wird sich noch mehr tun. Die Figur rückt an den Steinen …«
»Wen meinen Sie, Mrs Carson? Sidney Bighorn?«
»Sie sind durch Walker schon orientiert. Ja. Walker ist immer gut unterrichtet.«
Sligh empfing einen Stich. Walker, der immer gut unterrichtet war, wusste ohne Zweifel auch von dem Zettel mit der Adresse Roger Slighs in der Hand oder richtiger im Magen eines … nun, eines Patienten. Bighorn war in der Distriktverwaltung angestellt. Es kostete ihn nicht mehr als ein Flüstern, um Entscheidungen zu lenken.
Sligh trank einige Gläser Whisky mehr, als er beabsichtigt hatte. Alles in allem schien ihm der Gewinn der Nachmittagsstunden und des frühen Abends gering. Vielleicht war er selbst es, der die Unterhaltung und eine Vertrautheit, die zwischen den andern bestehen mochte, störte. Auch Mrs Carson wischte mit ihren Bemerkungen immer nur den Staub auf der Oberfläche hin und her. Doch glaubte Sligh, aus ihrem Geruch ihr Wohlwollen für seine Person zu spüren. Roger Sligh, M. D., verschrieb sich Kate Carson als Medizin, um von der wachsenden Zahl der Spritzen loszukommen. Das Heilmittel war zunächst äußerlich anzuwenden.
Es wirkte, wenn auch nur bis knapp unter die Haut. Je länger sich die Frist aber hinzog, in der Sligh weder von Briefen noch von sonstigen erinnernden Drohungen gestört wurde, desto fester verkapselten sich in ihm alle unangenehmen Vorstellungen. Die Wellen von Angst und Hass liefen seicht und sanft aus am sandigen Strand täglicher Pflichten und Gewohnheiten. Um Roger Sligh, M. D., bildete sich wieder eine Atmosphäre der Gleichmäßigkeit und der Anerkennung. Auch diejenigen, die den Abschied von Piter Eivie lebhaft bedauert hatten, gewöhnten sich an Sligh wie an alles erträgliche Unvermeidliche. Dem Präriewinter blieb, wie einem Winter im allgemeinen, nichts anderes übrig, als allmählich einem wenn auch in diesem Falle sehr kargen Frühling zu weichen. Roger Sligh konnte wieder gefahrlos nach New City fahren und dort jenen Teil seiner Beziehungen zur Frau absolvieren, die aus den Verbindungen zu einer Kollegin ausgeschaltet blieben.
Sligh ging in diesen Monaten mit dem Gedanken um, mit etwa zweiundvierzig Jahren die Reservation als ein berühmt gewordener Chirurg wieder verlassen zu können. Das Zukunftsbild begann sich nicht nur als Möglichkeit, sondern als eine schon gewisse Wirklichkeit seiner Stimmung einzuverleiben. Es fügte sich in seinen Charakter, seine Lebensauffassung und seine Lebensansprüche auf das beste und durchaus fugenlos ein. Einer, der mit seinen Augen oder mit einem unvorhergesehenen Verlauf seines sehr langwierigen Heilungsprozesses die Gewissheit zur Ungewissheit hätte machen können, befand sich fern von Sligh in bestmöglicher und sicherer Obhut.
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