Galen wuchs in Pergamon in Kleinasien auf und studierte am dortigen Asklepeion (bzw. dem Aeskulapischen Tempel), ein Ort der Gesundheit, der viele reisende Patienten anzog. Galen studierte Anatomie und Physiologie in Smyrna, Korinth und Alexandria, bevor er die verwundeten Gladiatoren in Pergamon versorgte. Hier kombinierte er Theorie und Praxis, die Lehren von Erasistratos und Herophilos:24
„Als Arzt der Gladiatoren war er zumeist als Chirurg tätig. Dabei entwarf er vorgeblich neue [klinische] Methoden (z. B. tränkte er in Fällen ernster Verletzung die Verbände mit Rotwein, um die Entzündung zu vermindern). Doch er achtete scharf auf ähnliche Fälle, die er zu seinem anatomischen und physiologischen Wissen hinzufügen konnte. Er nutzte sorg fältig seine Beobachtung von Athleten, was Ernährung und körperliche Übungen betraf.“ 25
Mit anderen Worten bemerkte Galen, dass die Ansätze von Erasistratos und Herophilos nicht in einem kontradiktorischen Verhältnis zueinander standen, sondern in unterschiedlichen Weisen nützlich waren, da sie aus verschiedenen Perspektiven entwickelt worden waren.
Galens Berufserfolg führte ihn nach Rom als Arzt des Kaisers Mark Aurel. Dabei konnte er fast seine gesamte Zeit darauf verwenden, seine vielen Bücher zu schreiben. Insofern er sein großes theoretisches Wissen in Anatomie und Physiologie mit seinen intensiven klinischen Erfahrungen bei den Gladiatoren kombinierte, drehten sich seine Bücher um die Konzepte von Struktur und Funktion des Körpers:
„Das harmonische Wirken der organischen Funktionen gibt es jedoch nur, wenn die materielle Struktur normal ist […] Organerkrankungen sind durch Veränderungen der Struktur verursacht […] “ 26 „Die Anwendung dieser allgemeinen Ideen auf die Theorie der Gesundheit und Krankheit verlangte […] nach direkter Erforschung der Struktur und Funktionen des menschlichen Körpers.“ 27
Galen nahm wie Hippokrates an, dass die vier Körpersäfte verschiedene Typen von Personen hervorbrachten. Er wollte ebenso vorhersagen, was als nächstes geschehen werde, d. h.: es ging um eine genaue Prognose. Gleichwohl führten ihn sein anatomisches Wissen und sein logischer Verstand dazu, eine solide Fundierung für Prognosen zu suchen. Daher begründete er seine Prognose mit der klinischen Diagnose.28 Er lehrte, dass die abschließende Diagnose durch den Ausschluss von Möglichkeiten erreicht werden solle. Auf diese Weise schrieb Galen seine Bücher, indem er die Prognose mit der Diagnose verband. Obgleich er in manchen Einzelheiten falsch lag, schenkte er der Welt eine Philosophie der Gesundheitsfürsorge, die sich als so nützlich erwiesen hat, dass sie bis zu diesem Tag den Hauptansatz der medizinischen Praxis bildet.
DIE PERSISCHE MEDIZIN DES AVICENNA UND DIE SPANISCHE MEDIZIN DES MAIMONIDES (1100 N. CHR.)
Avicenna forschte in der Bibliothek des Sultans von Bukhara in Persien. Er war ein Arzt von großer Bildung, der Organisationsstrukturen der muslimischen Religion entwickelte, indem er die aristotelische Ethik auf die Lehren des Qur’an (Koran) anwendete. Dies regte einen anderen Arzt, Maimonides aus Cordoba in Spanien an, ähnliche Strukturen bzw. Prinzipien für die jüdische Religion zu entwickeln, wobei er ebenfalls die aristotelische Ethik verwendete. Weiterhin – nachdem das Werk von Maimonides in die lateinische Sprache übersetzt wurde – entwickelte Thomas von Aquin Prinzipien für die christliche Religion, die auf der aristotelischen Ethik basierten. Auf diese Weise besitzen nun drei größere Weltreligionen ein gemeinsames Substrat an ethischen Prinzipien. Können wir ein gemeinsames Substrat an medizinischen Prinzipien besitzen?
Die Tatsache, dass Avicenna und Maimonides Philosophen und Ärzte waren, sollte nicht überraschen, weil sie beide Galen sehr bewunderten, der zum Studium der Philosophie ermutigte. Ihre philosophische Neigung ermöglichte ihnen, in ihren Büchern medizinische Wirkungen mit Ursachen zu verbinden. Die Verbindung von Ursache und Wirkung wird sich als bedeutsam erweisen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ihrer Arbeiten besteht darin, dass sie Körper und Seele in ihre medizinischen Überlegungen einbezogen. Maimonides wurde dazu durch seinen Lehrer Averroës gebracht, der ihn ebenfalls über die Werke von Avicenna belehrte. In der Tat enthielt die muslimische Medizin durch ihren Versuch, klinische Wirkungen mit diagnostischen Ursachen zu verbinden, die Anfänge einer allgemeinen Philosophie der Gesundheitsfürsorge.
Avicennas Mammut-Enzyklopädie Canon medicinae besteht aus fünf Büchern, die nach ihrer Übersetzung in die lateinische Sprache über mehrere Jahrhunderte an christlichen Universitäten der medizinischen Lehre zugrunde lag.29 Allein sein Umfang machte das Werk zur Autorität. Doch dies könnte auch eine weitere Entwicklung verhindert haben. Der Westen musste auf unabhängige Denker wie Leonardo da Vinci († 1519) warten, um die Anatomie des Canons herauszufordern, obgleich viel davon offensichtlich falsch war. Paracelsus († 1544) verbrannte sein Exemplar des Canons öffentlich in Basel. William Harvey stellte 1628 fest, dass der Abschnitt über den Blutkreislauf falsch war. Zur Zeit von Thomas Syndenham († 1689) bezogen sich viele medizinische Lehrer nicht auf muslimische Ärzte.30 Gleichwohl brachten diese Philosophen und Ärzte die Lehren von Hippokrates, Aristoteles und Galen nach Westeuropa und verschafften den folgenden Generationen Anhaltspunkte, die erforderlich waren, die grundlegenden Geheimnisse der Wissenschaften vom Menschen zu lüften.
DIE FORMULIERUNG VON THEORIEN
An dieser Stelle müssen wir die Lehren über die Formation von medizinischen Theorien bekräftigen. Dies wird uns bei der folgenden Analyse jüngerer Theorien hilfreich leiten.
Die erfolgreichen Theorien der Vergangenheit erforderten einen Menschen, der eine induktive Einsicht hatte, um eine Schlüsselbeziehung zu entdecken. So kann es sich um eine Beziehung zwischen Pulstypen und Organfunktionen oder zwischen Persönlichkeitstypen (Körpersäften) und Krankheit, darüber hinaus zwischen Diagnose und Krankheit handeln. Jemand musste eine bestehende Veränderung zwischen zwei Sachverhalten bemerken: zwischen einem potenziellen Maß und einem körperlichen Problem.
Der zweite Schritt, den wir in unserem historischen Bericht beobachtet haben, bestand in der Formulierung eines Modells bzw. eines einfachen Wegs um die oben dargestellten Beziehungen auszudrücken. Das Modell kann in einer Sprache über Pulstypen bestehen wie ‚Weiden-Brise‘ oder in klinischen Beobachtungen, wie in den Büchern des Hippokrates bzw. in Struktur-Funktion-Interaktionen, wie sie Galen darstellt. Ein Modell ermöglicht es einer Sprache, ein Maß mit einem Phänomen zu verbinden.
Der dritte Schritt bei der Formation einer erfolgreichen Theorie in der Vergangenheit schien darin zu bestehen, dass Lehren gezogen und Voraussagen zukünftiger Entwicklungen ermöglicht wurden (Prognose). Als wichtigster Faktor erwies sich dabei die Fähigkeit zu lernen, wenn wir jemals das Wissen verbessern und vermehren wollen.
Während des Berichts über antike Methoden erkannten wir einen wiederholten – wenn auch unbewussten – Gebrauch der Autosuggestion bzw. des heute so genannten Placebo-Effekts. Dabei bestand bei vielen Beispielen der Gesundheitsfürsorge eine Verbindung des Körpers mit mentalen Prozessen und dem Geist. Dieser holistische Ansatz wurde in der äskulapischen Tradition am deutlichsten. In den Schriften früherer Entwickler von Konzepten der Gesundheitsfürsorge erkannten wir verschiedene Versuche, körperliche Maße mit körperlichen Funktionen zu verbinden. Dies wurde im letzten Abschnitt über die Formulierung von Theorien zusammengefasst. Insbesondere Hippokrates und Galen verbanden körperliche Strukturen und Funktionen, darunter innere Einstellungen und körperliche Funktionen.
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