Damit konnte und wollte sich Robert nicht abfinden. In seinem Lebensumfeld versuchte er dieser Entwicklung entgegenzuwirken, das Leben auf kleinem Level wieder etwas lebenswerter zu gestalten. Als Rückschlag empfand er dabei die brutale Körperverletzung, die Paul und seine Kumpane der jungen Frau zugefügt hatten. Wenigstens wurden sie dafür halbwegs gerecht bestraft.
Felix Dännicke war an diesem Morgen beim Verlassen seines Grundstückes in Blankeheide aufgeregt, aber in froher Erwartung auf seinen ersten spannenden Tag im Arbeitskreis Finanzkonsolidierung. Er konnte es kaum erwarten, seine Ideen darin einzubringen und dafür zu kämpfen, dass seine – und nur seine – Vorschläge in die Tat umgesetzt wurden. Seinen Boss Schuster hatte er bereits auf seiner Seite. Die übrigen Mitglieder des AK wollte er erst einmal in Ruhe kennenlernen, um sich dann auf eine bestimmte Strategie festzulegen, die ihn seinem Ziel näher brachte. Heute war in der nördlichen Elbestadt das erste Treffen angesetzt. Die Einladungen zu dieser Zusammenkunft wurden den Teilnehmern über ihre jeweiligen Parteien zugestellt – und waren geheim. Davon, dass Einzelne als Delegierte ausgewählt wurden, hatten nur die Vorstandsmitglieder der Parteien Kenntnis, da diese im Parlamentarischen Kontrollausschuss mit der Regierung die Zusammenstellung des AK beschlossen hatten. War der Arbeitskreis erst einmal gebildet und arbeitsfähig, agierte er absolut autark und losgelöst von den Parteien, dem Parlament und der Bundesregierung. Die Befugnisse der AK waren enorm, konnten sie doch ohne Weiteres Gesetze formulieren und auf dem kleinen Dienstweg der Regierung zum Beschluss vorlegen. Die meisten der seit 2017 beschlossenen Gesetze waren auf diesem schnellen, geheimen und undemokratischen Weg in Kraft getreten.
So sollte es auch diesmal werden!
Felix kannte die Aufgabenstellung bereits ziemlich genau, dafür hatte Schuster gesorgt. Diesem lag viel daran, dass sein Schützling besonders erfolgreich in dem AK auftreten konnte, ja vielleicht sein Vorschlag zum Gesetzentwurf wurde.
Als Felix die einspurige Behelfsbrücke überquert hatte, die die einst stolze Köhlbrandbrücke ersetzen musste, nachdem sie im vierzigsten Jahr ihres Bestehens mangels Wartungs- und Sanierungsmöglichkeiten gesperrt worden war, bog er in die Seitenstraße ein, in der Schuster wohnte und dieser vor seinem Haus auf Felix wartete.
„Moin, Schuster“, sagte Dännicke nach dem Öffnen der Autotür.
Die Anrede mit dem Nachnamen war nichts Ungewöhnliches und tat ihrem ansonsten guten Verhältnis keinen Abbruch. Sie wechselten je nach Stimmung zwischen dem Vor- und Nachnamen hin und her.
„Moin, Dännicke, Sie sind pünktlich da, das ist gut. Kennen Sie den Weg zu unserem Termin?“
Er war während der Begrüßung in das Auto eingestiegen und Felix Dännicke hatte den Wagen sogleich wieder in Bewegung versetzt.
„Ja, ich weiß, wohin wir müssen, musste schon mal Ihren Vorgänger hinbringen. Sonst haben wir da bisher keinen Zutritt gehabt.“
Er meinte eine Wohnung, die im Besitz der Bundesregierung stand und für geheime Zwecke konspirativ zur Verfügung gestellt wurde. Da der Arbeitskreis auf Betreiben der Regierung entstehen sollte, stellte die Wohnung kein Problem dar. Die eigentlich geplante Videokonferenz hatte Schuster spät abends abgesagt und stattdessen das Treffen im Stadtteil Schönefeld übermittelt. Auch die anderen Teilnehmer hatten diese Planänderung von ihren Parteien erhalten.
Sie fuhren weiter Richtung Schönefeld. Sie hatten nun noch ungefähr eine viertel Stunde zu fahren, als sich Schuster fragend an Felix wandte: „Dännicke, haben Sie eine Vorstellung von dem, was Sie da heute erwartet? Ich bin nur zur Einführung und Verifizierung dabei. Dann bin ich in anderer Sache unterwegs.“
„Ja. Ich habe etwas mitbekommen, als Sie die Aufgabenstellung einmal online hatten. Sorry, wollte nicht zu neugierig sein. Es geht um die Finanzkonsolidierung unseres Landes. Ich habe das ganze Memo gelesen. Ich hatte damals den Eindruck, dass Sie es zu diesem Zweck geöffnet hatten.“
„Stimmt. Ich wollte, dass Sie bereits frühzeitig mit dem Thema konfrontiert werden, weil ich Sie auf diesem Gebiet für kompetent halte. Sie wissen das. Konnten Sie mit der Hilfestellung etwas anfangen? Ich hoffe, ja. Dännicke, ich zähl’ auf Sie. Auch ich habe noch Karrieresprünge vor mir und ich brauche Vertraute um mich herum. Den allgemeinen Parteimob möchte ich nicht überall haben.“
„Danke. Weiß schon, dass ich da große Vorschusslorbeeren bekommen habe. Ich habe seit dem Lesen des Memos an fast nichts anderes mehr gedacht und brenne nun darauf, meinen Vorschlag einzubringen. Wie viele Mitglieder wird denn der AK haben?“
„Außer Ihnen sind noch elf andere bestellt. Am besten, Sie lassen es ruhig angehen. Verschießen Sie nicht zu früh Ihr ganzes Pulver. Immer schön taktisch denken und handeln. Halten Sie die anderen einfach für impulsive Trottel.“
„Leicht gesagt. Ich gebe mir Mühe und halte Sie auf dem Laufenden. In zwei Minuten sind wir da.“
Sie bogen in eine kleine Nebenstraße der Friedrich-Ebert-Allee und hielten in der Nähe der Hausnummer 19 f.
„Hier müssten wir richtig sein“, sagte Dännicke zu seinem Boss und dieser nickte kurz. Schuster wirkte auf einmal etwas wortkarg und verschlossen. Wahrscheinlich lag das an der Örtlichkeit, dachte sein Schützling und nahm es so hin. Sie gingen die letzten Schritte zu dem unauffällig gesicherten Eingangstor. Schuster nahm sein ID und sendete einen Code, den er zusammen mit der Nachricht zum Versammlungsort erhalten hatte, an den Bildschirm, der neben der gewöhnlichen Klingel in das Mauerwerk eingelassen war. Die Tür öffnete sich und beide betraten das Grundstück. Dännicke sah sich kurz um und stellte fest, dass es sich um ein verwahrlostes altes Gelass mit einer großen, ehemals sehr schönen Villa handelte. An vielen Stellen war Sicherungstechnik zu sehen. Er dachte: ‚Gar nicht so schlecht. Hier kann ich loslegen.‘
Schuster sendete an der Haustür erneut den Code und sie erhielten den Zugang in das Haus. Aus den Räumen hörten sie leises Stimmengewirr. Aus einem Zimmer kam ihnen eine junge Frau entgegen, die sie gleich persönlich ansprach: „Guten Tag, Herr Schuster und Herr Dännicke. Wir haben Sie bereits erwartet. Die übrigen Mitglieder sind bereits geprüft und warten. Bitte kommen Sie mit mir zum Administrator und erledigen Sie die Formalitäten.“
Sie folgten ihr und händigten dem Administrator ihre ID aus. Dieser prüfte mit seinem eigenen ID die Richtigkeit und nickte der jungen Frau kurz zu.
„Alles okay“, sagte er knapp.
Mit dem Abgleich der ID wurden notwendige Formalitäten im Vergleich zu früher deutlich vereinfacht. Es brauchten keinerlei Dokumente vorgelegt, ausgetauscht oder geprüft werden.
Die Empfangsdame bat erneut, ihr zu folgen, und sie betraten den eigentlichen Versammlungsraum, das ehemalige Wohnzimmer des Hauses. Es hatte eine stattliche Größe. Bis auf einen großen Konferenztisch mit zwölf Bürosesseln war es leer. Vor jedem Sessel lag ein großes Tableau, eine Weiterentwicklung der früher verwendeten Tablets. Mit diesen waren sämtliche Bürovorgänge zu erledigen: Präsentationen, Schriftstücke verarbeiten, Nachrichtenverkehr aller Art, Speicherung und anderes. Mit dem Einsatz dieser Hardware gab es kein einziges Stück Papier mehr.
Felix Dännicke war zufrieden und stellte sich vor: „Guten Morgen, meine Herren. Ich bin Felix Dännicke vom LBD. Das hier ist mein Boss Herbert Schuster.“
Der Erwähnte sah Dännicke von der Seite etwas unverständlich an, war er doch der Vorgesetzte und wollte die Einführung selbst übernehmen. Doch Dännicke fuhr unbeirrt fort: „Ich bin – genau wie Sie – in den AK berufen worden. Ich hoffe auf gute Zusammenarbeit und erwarte schon heute erste Ergebnisse.“
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