„Sei doch nicht gleich beleidigt. Aber was wahr ist, soll auch wahr bleiben. Also im Ernst, wie geht es dir und der Familie?“
„Danke, alles in bester Ordnung. Rita hat in letzter Zeit etwas mehr Sorgen wegen unserem Bengel.“
Felix nannte seinen Sohn stets Bengel. Seine Beziehung zu ihm litt unter einem erheblichen Mangel an Bindung, Emotionen und Offenheit. Der „Bengel“ war mehr oder weniger das Projekt seiner Frau, die mehr schlecht als recht ihre Erziehungsaufgabe allein wahrnahm. Robert dachte: ‚Nicht nur als Vater bist du ein Versager.‘
Laut sagte er: „Felix, du musst ihr mehr Unterstützung geben. Mit dem Bengel kommt man nicht mehr so leicht aus, der ist jetzt fünfzehn. Wie soll er denn ohne Mitwirkung seines Vaters ordentlich ins Leben wachsen und später ein guter Bürger unseres Landes werden?“
Felix gefiel das Gespräch immer weniger. Wenn er etwas nicht ausstehen konnte, dann war es Kritik an seiner Person, seinen Ansichten oder seinem Handeln. Robert tat genau das; er wusste es seit ihren Kindertagen: Immer war es Robert, der mit Aufrichtigkeit punktete, und immer war es Felix, der mit Verschlagenheit und Halbwahrheiten sein Ziel zu erreichen versuchte. Dass Robert ihm moralisch dermaßen überlegen war, ging ihm gewaltig gegen den Strich.
„Nun mach mal halblang! Davon verstehst du doch gar nichts. Hast kein Kind und kein Kegel und gibst schlaue Ratschläge.“
Sie waren vor dem Haus ihrer Mutter Doreen angekommen. Robert pflegte zu ihr eine gute Beziehung, die der von Felix jedoch nicht gleichzusetzen war. Doreen hatte sich Zeit ihres Lebens darum bemüht, zu beiden Kindern gleichberechtigt liebevoll zu sein, was ihr fast immer gelungen war. Jetzt, da ihre Söhne erwachsen waren, handhabte sie das nicht anders.
„Ist Mutter zu Hause?“, fragte Felix und beendete damit ihren Disput über Kindererziehung und Ernährung.
„Nein, sie ist noch auf dem Markt. Will aber zum Mittag wieder da sein. Es gibt Kammscheiben, Knödel und Sauerkraut. Weil du dir’s gewünscht hast – wie immer vor Weihnachten.“
„Ich hatte es gehofft. Schenkst du ihr was?“
Robert antwortete nicht. Sie stellten den Bulli der SE vor dem Haus ab und liefen über den Hof bis zum Hintereingang. Nachdem Robert aufgeschlossen hatte, liefen sie die vier Geschosse nach oben und betraten die Wohnung ihrer Mutter. Sie stellten fest, dass hier wie immer alles in einem sehr sauberen und ordentlichen Zustand war. Bei Doreen hatten Dreck und Unordnung keine Chance. Ihre Söhne waren da nicht so genau – eine der wenigen Gemeinsamkeiten der beiden.
Felix stellte im Wohnzimmer die Heizkörper auf die höchste Stufe und machte es sich in einem Sessel bequem. Er betrachtete das Inventar und den bereits geschmückten Weihnachtsbaum. Die Einrichtung der Wohnung war seit jeher bescheiden, einfach und immer in ordnungsgemäßem Zustand. Die Möbel waren offenkundig aus den frühen 1990-er Jahren an und das Design stieß bei Felix auf Abneigung – er wusste jedoch, dass seine Mutter nicht seinen finanziellen Rahmen für eine zeitgemäßere Einrichtung hatte.
Als sein Bruder nach ihm ins Zimmer kam und ihm ein Bier in die Hand drückte, fragte er: „Geht es ihr inzwischen wieder besser? Sie hat doch das letzte halbe Jahr nicht so rosig verbracht.“
„Ja, vor vier Wochen hatte sie die letzten Untersuchungen. Nun kann sie recht beruhigt in die Zukunft schauen. Hättest ja mal anrufen können. Also, los: Prost, ich freue mich, dass du hier bist. Kommen Rita und der Bengel morgen?“
Sie prosteten sich zu und Felix erklärte die Reiseumstände seiner Familie. Da Rita mit dem Bengel zu Besuch bei ihrer Verwandtschaft war, konnte sie erst einen Tag später anreisen, was Felix nicht besonders traurig stimmte. Es war nicht sehr weit von dort bis hierher, so konnte sie den Weg ohne größeren Aufwand selbst organisieren. Er freute sich darauf, mit seinem Bruder, seiner Mutter und Doreens Eltern einen ruhigen Abend „ganz in Familie“ zu verbringen. So sehr ihm dieses Gefühl selbst gut tat, er war nicht in der Lage, dieses auf seine eigene Familie zu übertragen oder ansatzweise in dieser Richtung Gefühle zu entwickeln. Robert war da vollkommen anders – sämtliche Fähigkeiten, die seinem Bruder auf diesem Gebiet fehlten, konnte er in besonderer Ausprägung zu seinen Stärken zählen.
Robert erzählte weiter von der überstandenen Krebserkrankung ihrer Mutter und den damit verbundenen finanziellen Problemen. Einen großen Betrag der Behandlungskosten und Medikamente musste die Familie privat aufbringen. Doreens Krankenversicherung schloss nur das einfachste Schutzpaket ein – eine teure Krebsbehandlung wurde dabei nur mit umfangreichen Eigenbeteiligungen der Versicherten vorgenommen. Das betraf allerdings drei Viertel der gesamten Bevölkerung. Die Frage nach einem Weihnachtsgeschenk ließ sich somit auch auf die einfache Art beantworten.
„Felix, ich habe im letzten halben Jahr locker drei Monatsgehälter an das Krankenhaus überwiesen. Das ist mein Geschenk.“
„Sorry, das wusste ich nicht. Wieso habt ihr denn mir nichts davon gesagt? Ich hätte auch was dazu beitragen können.“
Robert sah ihn fragend und unsicher an. Er überlegte, ob er seinem Bruder sofort die Meinung geigen oder im Interesse einer guten Stimmung darauf verzichten sollte. In Roberts Augen war das nachträgliche Angebot von Felix der blanke Hohn, obwohl er wusste, dass auch Felix einen minimalen Sinn für Familie und Nahestehende hatte. Allerdings ließ sein Engagement als Politiker dies nur sehr begrenzt zu – man könnte es auch als Aufflackern bezeichnen. Vielleicht war ja heute so ein Aufflackern zu erkennen. Robert sagte deshalb ziemlich gedämpft: „Zu spät, mein Guter. Probier’ doch mal, neben deinem Politikhype immer öfter auch was Persönliches und Privates in dein Leben zu lassen. Felix, du gehst komplett in deiner Funktion auf und veränderst dich damit.“
Es entstand eine Gesprächspause. Felix sah vor sich hin und dachte über Roberts Worte nach.
Dieser schob nach einer Weile nach: „Und nicht zu deinem Vorteil.“
„Hast ja recht. Ich merke das selber, aber das eigene Eingeständnis fällt sehr schwer. Ich mach auch nur das, wovon ich glaube, dass ich es am besten kann. Denkst du, in meinem Business ist alles nur rosarot? Robert, da geht’s zu wie auf dem Schlachtfeld. Wer zuckt hat verloren. Ich hab nur Konkurrenten und Gegner um mich herum, selbst in meiner eigenen Partei. Schuster ist mir da noch am ehesten eine Hilfe. Ich hab dir von ihm erzählt.“
„Ist schon gut, lass uns den Weihnachtsfrieden wahren. Aber ein paar kritische Anmerkungen kann jeder mal gebrauchen. Los, Mutter kommt jeden Moment, lass die Flaschen verschwinden.“
Felix nahm den Waffenstillstand der Worte an, konnte sich jedoch nicht verkneifen, noch einen Pfeil gegen Robert abzuschießen.
„Mein Bruder, der große Demokrat und Revoluzzer – und wenn die Mama kommt, müssen schnell die Biere weg. Ich denk, in euren Kreisen geht es so offen und unkompliziert zu?“
„Lass gut sein“, Robert grinste nur und sagte weiter: „Das kriegst du alles zurück, du Vertreter der Bourgeoisie!“
Nach einer Weile des stillen Wartens klingelte es an der Wohnungstür und beide standen auf, um Doreen zu begrüßen.
Felix nahm ihr die Einkaufstüten ab und ließ sich von ihr herzlich drücken. Doreen freute sich immer aufrichtig, wenn sie ihre beiden Söhne bei sich zu Hause hatte und sich um sie kümmern konnte. Sie betrachtete Felix schon seit Ewigkeiten nicht mehr als ihr Pflegekind, sondern machte, was ihre Herzlichkeit betraf, keine Unterschiede zwischen den beiden. Es war ohnehin in der zweiten Hälfte der 2010-er Jahre sehr schwer geworden, angesichts der verknappten und verteuerten Mobilität, Freunde oder Verwandte zu besuchen. Wenn sie Felix zwei Mal im Jahr sah, war das viel, und sie freute sich, dass er mit seiner privilegierten Stellung die Möglichkeiten dazu hatte. Das ging den wenigsten Familien so. Es war inzwischen die Regel, Besuche nur noch in unmittelbarer Nähe anzutreten. Sobald die Strecke zu groß wurde, machte man sie schlicht nicht mehr. Das Geld für die Treibstoffe konnte einfach kein normaler Privathaushalt mehr aufbringen. Jeder war indessen froh, wenn seine Angehörigen nicht mehr in die Ferne zogen, um zu arbeiten oder das Leben zu genießen. Da trotzdem viele der jüngeren Menschen diesen Wunsch verspürten, brach die familiäre Bande in den meisten Fällen auseinander, und es fehlte der Mehrzahl der Menschen an sozialen Bindungen – ein erheblicher Grund für die deutlich spürbare Schieflage im sozialen Gefüge der Republik. Es sehnten sich sogar viele wieder nach Verhältnissen, wie sie vierzig Jahre zuvor im Ostteil des Landes herrschten – und das in der gesamten Republik.
Читать дальше