Der Fuzzi schwafelte weiter. Pauls Bereitschaft zur Zusammenarbeit vorausgesetzt, könne er sich dafür einsetzen, dass er vorzeitig entlassen werde, außerdem über seine Beziehungen ein eigenes ID und einen Praktikumsplatz erhalten könne. Allerdings würde es sich ausschließlich um Hilfsarbeiten für ihn, Felix, handeln, mit der echten Politikarbeit hätte er keine Berührungspunkte.
Paul fragte nun doch genauer nach: „Was denn für Arbeiten? Ist das überhaupt was für mich?“
„Es geht nicht darum, dass du mir Reden oder Briefe schreibst. Es sind ständig irgendwelche Botengänge, Fahrten zu Veranstaltungen, Wahlkampfhilfen oder andere praktische Hilfsarbeiten zu erledigen. Das wäre was für dich. Vielleicht nicht Vollzeit, aber eine halbe Stelle kriegen wir schon hin.“
„Und wie soll das gehen, mit der vorzeitigen Entlassung? Gute Führung und so? Sehen Sie mal in meine Fresse! Das ist dann wohl gute Führung.“
Paul streckte ihm seine besonders lädierte Gesichtshälfte hin und legte nach: „Am Arsch und noch weiter hab ich noch mehr kaputtes Fleisch. Auch mal ’n Blick riskieren?“
Er lachte gequält und wollte sein Gegenüber nicht weiter belästigen. Diesen Mindestanstand hatte er zu Hause mitbekommen. Felix wendete sich etwas ab und überwand seinen Ekel. Freundlich und unbeirrt setzte er seine Charmeoffensive fort: „Lass mal sein. Ich kenn mich auch aus. Gute Führung heißt vor allem: Lass dir nichts selber zuschulden kommen. Das macht es nur schwerer.“
Felix dachte noch: ‚ … aber nicht unmöglich‘, wollte aber von seinen Möglichkeiten nicht weiter reden.
Nach einer weiteren Viertelstunde Monolog von Felix, kam aus den Lautsprecher die Ansage, dass die Besuchszeit in fünf Minuten beendet sei und die Tür automatisch für eine Minute geöffnet werde. Das bedeutete für die Besucher, dass sie in dieser Minute zuverlässig und aus eigenem Interesse verschwinden mussten. Nachdem die Tür wieder geschlossen war, ließ sie sich nur noch manuell von einem Beamten öffnen. Und wenn es dazu kam, standen für den Besucher und den Besuchten drakonische Strafen auf dem Spiel. Daher funktionierte die automatische Regelung vortrefflich, so wie in allen anderen Bereichen auch; es mussten nur die zu erwartenden Sanktionen richtig schmerzlich sein. Seine Lektion hatte der Saat gelernt.
Felix kam zum Ende: „Also, ich biete dir an: Entlassung in einem Jahr, eigenes ID, Halbtagspraktikum mit Bezahlung. Deinen Wohnort bestimme ich. Du musst darüber nachdenken und ein Jahr friedlich bleiben. Wenn du dich dafür entscheidest, setze ich deine Treue zu mir voraus. Anderenfalls hätte ich auch Mittel und Wege, mich zu wehren. Gib mir in einem Monat Bescheid. Über deinen Vater und Robert Heinel. Direkten Kontakt gibt’s vorerst nicht zu mir! Mach’s gut!“
Diese konkrete, schnelle Art beeindruckte Paul zum ersten Mal. Das war seine Welt: kurz und knapp. Er stand auf und gab Felix die Hand.
„Ich überleg es mir. Will aber auch danach noch was davon haben. Wenn ich es mach. Ich meine erfolgreich sein und so. Tschüss.“
Mit diesen ungewöhnlichen Schlusssätzen beiderseits verließen sie den Raum. Sechs Wochen sagte er seinem Vater bei einem Besuch, er solle über Robert diesem Politfuzzi mitteilen lassen, dass er das Angebot annehmen würde. Die gute Führung gelang ihm zwar nicht. Felix’ Beziehungen waren jedoch so gut, dass er auch diesen Punkt überwinden konnte.
***
Als er den gemieteten Kleinbus wieder erreichte, in dem seine Frau und der Bengel eineinhalb Stunden gewartet hatten, setzte sich Felix nach hinten und begann zu telefonieren. Dass deshalb Rita ans Steuer musste, nahm er in Kauf.
Er rief Ostermann an: „Guten Abend, Herr Ostermann.“
Dass es am zweiten Weihnachtsfeiertag eine Zumutung für andere war, geschäftliche Telefonate führen zu müssen, war ihm egal. Felix kannte keine Privatsphäre, warum sollte er Rücksicht auf andere nehmen? Sein Vorgehen beim Arbeitskreis war da wichtiger und hatte für ihn oberste Priorität.
Ostermann antwortete mürrisch: „Herr Dännicke, guten Abend. Mit diesem Anruf habe ich nicht gerechnet. Sie wissen, dass Weihnachten ist? Ist sitze mit meiner Familie zusammen.“
Felix wartete einen peinlich langen Moment ab und führte das Gespräch weiter, ohne auf die Kritik einzugehen; schon gar nicht beantwortete er die Frage.
„Ich wollte mich kurz mit Ihnen austauschen, wie Ihr Stand ist. Morgen treffen wir uns im Norden. Sind Sie nach wie vor gewillt, einen eigenen Vorschlag einzureichen, oder können Sie sich vorstellen, sich mir anzuschließen?“
Ostermann hatte nicht die Absicht, sich so unverblümt in die Karten sehen zu lassen. Er überlegte kurz. Sein eigener Stand war nicht zufrieden stellend. Er ging davon aus, dass Felix weiter vorangekommen war. Ihm war nicht klar, dass Dännicke überhaupt nichts ausarbeiten brauchte, war doch sein Konzept bereits vor dem Zusammenschluss im Arbeitskreis fertig ausgearbeitet. Felix selbst konnte sich voll darauf konzentrieren, wie er mit seinen Wettbewerbern und Konkurrenten taktisch richtig umzugehen hatte. Zu diesem Zeitpunkt wollte er erfahren, ob Ostermann auf seine Seite zu ziehen war, wodurch ein Konkurrenzvorschlag wegfiele. Allerdings müssten sie in diesem Fall so vorgehen, dass die Stimme von Ostermann erhalten blieb und nicht in einem gemeinsamen Vorschlag aufging, wie es die fünf anderen Teilnehmer in Kauf zu nehmen hatten.
Ostermann log: „Nun ja, ich komme eigentlich ganz gut voran. Ich brauche vielleicht noch ein bis zwei Tage und habe dann mein grobes Konzept fertig. Herr Dännicke, wie sollte denn ein Zusammenschluss unserer beiden Meinungen vonstattengehen?“
Er hatte nicht ansatzweise vor, sich dem – aus seiner Sicht – größten Widerling des AK anzuschließen oder mit ihm vertrauliche Teile seiner Arbeit auszutauschen.
„Nun ja, wir könnten erst einmal beidseitig unseren jeweiligen Stand offen legen. Dazu sollte es zu einem vertraulichen Treffen kommen, von dem nur wir beide wissen.“
„Und Sie würden Ihre Arbeit dabei vorab präsentieren? Was ist, wenn ich sie einfach abkupfere und Sie dumm dastehen lasse?“
„Herr Ostermann, ich habe größtes Vertrauen zu Ihnen. Dieses Problem sehe ich nicht.“
Das Gegenteil war der Fall. Felix misstraute selbstverständlich seinem Gesprächspartner und hatte auch nicht wirklich vor, seine Idee einer finanziellen Konsolidierung der Republik, der Beseitigung des Schwarzgeldproblems und der größtmöglichen, wenn auch erzwungenen Steuerehrlichkeit der Bevölkerung seinem Widersacher aufzutischen. Vielmehr hatte er sich eine zweite Variante ausgedacht, mit der er lediglich Ostermanns Stimme für seinen Vorschlag gewinnen wollte, um kurz vor Abschluss der Arbeit mit der richtigen Variante aufzutrumpfen. Nur, dass sein Gesprächspartner ebenfalls nicht blöd war, kam ihm während des Telefonats nicht in den Sinn. Felix hielt sich stets für schlauer und durchtriebener als seine Mitmenschen.
„Also, Herr Dännicke, ich kann mir bis jetzt nicht vorstellen, dass wir zusammenarbeiten. Ich sag es ganz ehrlich, ich will mit Ihnen am liebsten überhaupt nicht arbeiten.“
Das war hart, aber direkt und ehrlich. Ostermann schien Charakter zu haben. Die Erwiderung von Felix war gelassen und freundlich: „Nun ja, Herr Ostermann. Schade, dass ich Sie nicht mit meiner Persönlichkeit überzeugen kann. Bitte sehen Sie es später nicht als Unachtsamkeit meinerseits an, dass ich es Ihnen nicht angeboten hätte.“
„Sie sind ja ziemlich überzeugt von sich, mein Guter. Wie kommen Sie dazu? Wissen Sie mehr als die anderen?“
Felix’ vorausschauende Denkweise machte ihn glauben, dass er mit großer Wahrscheinlichkeit mit seinem Entwurf durchkommen und der AK diesen als Gesetzesvorlage in die Kommission einreichen würde. Nichts, und schon gar nicht das vermeintlich naive Gehabe von Ostermann, würde ihn von diesem Standpunkt abbringen. Das machte es ihm leichter, als allen anderen, seine Arbeitsweise als die alleinig richtige anzusehen und frei von echter Kritik durch sein Leben zu kommen.
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