Kaum standen sie auf der Straße donnerte Robert schon los: „Felix, du bist aber auch ein unausstehlicher Kotzbrocken. Wie kannst du nur so herzlos mit deiner Familie umgehen? Was soll das?“
Der Angesprochene hatte mit diesem Vorwurf „in letzter Minute“ nicht mehr gerechnet und antwortete etwas unsortiert: „Robert, wie meinst du das? Hatten wir nicht zwei schöne Weihnachtstage? Mach doch nicht alles immer kaputt mit deinem engstirnigen Moralgedöns!“
Felix fühlte sich zu Unrecht angegriffen, war ihm doch solches Fehlverhalten, wie es ihm sein Bruder vorwarf, gar nicht bewusst.
Robert fluchte weiter: „Das sieht dir ähnlich. In deinem Politikclub ist so was wahrscheinlich in Ordnung. Hier geht’s aber um echte Menschen: deine Familie.“
Rita und der Bengel waren zu Beginn des Wortwechsels sofort in den Mietbus gestiegen und hatten die Türen wütend zugeschlagen. Auch ihnen ging die ewige Streiterei der beiden Brüder gewaltig gegen den Strich. Der Bengel hatte überhaupt keine Vorstellung und Ritas Oberflächlichkeit ließ ebenfalls nur wenig Selbsterkenntnis und damit Einsicht in die Perspektiven ihres Schwagers zu.
„Bruderherz“, versuchte Felix zu beschwichtigen, „was habe ich dir denn getan? Sei mal selbst nicht so krass an Weihnachten!“
„Hoffentlich, mein lieber Felix, wirst du nie eine wirklich verantwortungsvolle Funktion in unserem Land übernehmen. Davor würde mir grauen. Du bist einfach nicht fähig genug, die Ängste und Nöte deiner Mitmenschen zu analysieren, geschweige denn zu lenken und zu leiten.“
Felix war indessen richtig verärgert und bedauerte seinen Besuch in der ehemaligen Messestadt. Eigentlich verfluchte er jedes Jahr bei seiner Abreise diesen Umstand. Sollte sein Bruder doch in seinem kleinen Südvorstädtchen seine Revolution beginnen. Die Hackordnung in der Republik oder der Welt kratzte das nicht. Und Felix auch nicht. Trotzdem liebte er seinen Bruder und versuchte weiter, die Verärgerung etwas zu dämpfen.
„Robert, ich versichere dir, dass ich mich voll und ganz im Sinne unserer Bevölkerung im Rahmen meiner Möglichkeiten einsetze. Du weißt nur nicht, wie begrenzt diese Möglichkeiten sind. Glaubst du, ich kann einfach mal ’ne tolle Idee in die Tat umsetzen, als Gesetz vorschlagen? Und dann wird alles besser?“
Erneut dachte er an seine Aufgabe im Arbeitskreis, mit dem er auch am Folgetag wieder eine Zusammenkunft hatte. Eigentlich hatte er es sehr eilig, wollte er doch auch noch den Besuch im Gefängnis bei Paul bewerkstelligen.
„Ich glaube dir gar nichts. Obwohl du mein Bruder bist und wir eigentlich Vertrauen zueinander haben sollten. Los, macht euch nach Hause und grüß Paul. Aber eins sag ich dir, ich finde raus, was ihr zusammen besprochen habt. Lass bloß die Finger von ihm. Der soll seine Strafe absitzen und ein besserer Mensch werden. Hast du mich verstanden?“
Robert hatte sich wieder beruhigt, aber die Warnung bezüglich Paul wollte er noch loswerden.
Felix erwiderte: „Mach dir keine Gedanken darüber. Zumindest keine schlechten. Was denkst du eigentlich von mir? Bin ich in deinen Augen etwa nicht rechtschaffen?“
„Macht es gut und gute Heimfahrt, Felix.“
Er verabschiedete sich noch von Rita und dem Bengel und drückte zum Abschluss seinen Bruder lange.
Sie konnten nicht mit und nicht ohne einander.
Der Alltag in der Jugendstrafanstalt Brassnitz begann um fünf Uhr. Die Gefangenen wurden von einem langen unerträglichen Alarmton geweckt. Fünf Minuten später klappten sich die Liegen automatisch an die Wände. Fünf nach halb sechs wurde das spärliche Frühstück ausgeteilt. Ab sechs Uhr durften die Gefangenen in den Hof. Dieser Freilauf wurde bis achtzehn Uhr nur vom Mittagessen unterbrochen, was praktischerweise gleich im Hof stattfand und wodurch die Anstalt ihre Kosten deutlich senken konnte. Der Bewachungsaufwand tagsüber wurde auf ein Minimum reduziert. Alle dreißig Meter waren Wachtürme errichtet, von denen beim geringsten Anlass wahlweise mit Gummigeschossen, Tränengas oder Wasserwerfern disziplinierend auf revoltierende Cliquen eingewirkt werden konnte. Sollten diese Maßnahmen nicht ausreichten, wurde ohne Weiteres auch scharf in die Problemzonen geschossen. Als Folge dieser drastischen Härte gab es anfänglich im Schnitt jeden Monat einen Toten. Für die Gefängnisleitung stellte dies jedoch lediglich hinsichtlich der Statistik und der damit zusammenhängenden Bürokratie ein Problem dar.
Paul gehörte zu der Gefangenengruppe, die tagsüber einer Beschäftigung nachgehen durfte. Dies stellte ein Privileg dar und wurde nur den Jugendlichen zugestanden, die einen eher leichteren Strafenkatalog aufzuweisen hatten. Das verwunderte, wenn man Pauls brutalen Übergriff auf die junge Frau in der Südvorstadt in Betracht zog. Aber angesichts der Tatsache, dass drei Viertel der Taten, wofür die Jungen hier einsaßen, Mord und Totschlag waren und das restliche Viertel sich aus schwerer Körperverletzung, Erpressung, Raub und Vergewaltigung zusammensetzte, relativierte sich das. Tatsächlich mussten die Straftatbestände dieses kleineren Anteils in der jetzigen Phase der Republik leider wirklich als die weniger aufregenden angesehen werden. Pauls Glück schien zunächst daraus zu bestehen, dass er „nur“ eine versuchte Vergewaltigung und einen versuchten Mord vorzuweisen hatte. Praktisch ein „leichter“ Fall.
Trotz Pauls erstaunlicher Gewaltbereitschaft in seinem niedrigen Teenageralter wartete im Knast auf ihn die ganz harte Schule. Die Verantwortlichen fanden das in Ordnung und es wurde ihm keinerlei Schutz oder Hilfestellung gewährt.
Er lag an diesem Morgen todmüde im Bett, als ihn der Weckton hart aus dem Schlaf riss und die Tür seiner Einzelzelle automatisch aufflog. Ihm steckte noch die Spezialbehandlung in den Gliedern, die ihm am Abend zuvor in der Dusche zuteil wurde. Er konnte sich kaum regen und rieb sich seine schmerzenden Körperteile, insbesondere das Gesäß.
Nach Ansicht seiner Mithäftlinge war Paul einfach noch nicht zäh genug, um den Alltag im Knast schadenfrei überstehen zu können. Er war ein leichtes Opfer für die zumeist sechzehn- bis zwanzigjährigen Mitinsassen. Gewissermaßen als Zeitvertreib und sogar ohne größere Aggression suchten sich diese besonders barbarisch vorgehenden Typen stets solche zarten Typen wie Paul aus.
Das wöchentliche Duschen erwartete er seit dem ersten Überfall ohnehin nur noch mit Schrecken. Da dies die einzige Möglichkeit war, ein Mindestmaß an Körperhygiene einzuhalten, ist er auch gestern trotzdem um einundzwanzig Uhr in den Duschraum gegangen. Er war in Begleitung von drei anderen Jungs, die ihm nicht feindlich gesinnt waren, auch in seinem Alter und mit den gleichen Problemen behaftet.
Dragon war einer der Ältesten, sein Vorstrafenregister war umfangreich und entsprechend lange würde sein Aufenthalt dauern. Seinen Spitznamen hatte er sich dadurch verdient, dass er in besonders rauen Fällen seine Opfer mit Brandwunden verschandelte. Er wurde von jedem gefürchtet und gehasst und so stellte er auch für Paul eine unüberwindliche Tatsache dar.
„Paulchen, ich habe heute Lust auf Zärtlichkeiten“, rief er selbst schon unter der Dusche stehend dem Eintretenden zu.
Paul verdrehte die Augen, wusste was ihn erwarten würde und drehte auf der Hacke um. ‚Scheiß aufs Duschen‘, dachte er noch, bevor ihn zwei andere Mithäftlinge hart anpackten. Dragon hatte für seine Attacken stets Verbündete und sich vorbereitet. Eine spontane Sache zog er nie durch. Pauls Kehle wurde von einem der beiden Helfer hart zugedrückt, so dass er keine Luft mehr bekam. Der andere verpasste ihm einen so brutalen Hieb in den Magen, dass er schlaff zusammensackte und sich auf dem Fußboden vor Schmerz krümmte. Die Jungen, die ihn eben noch begleitet hatten, standen abseits an der Wand und trauten sich keine Regung zu.
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