Irgendwann klingelte es an der Haustür. Seine Entscheidung war ganz klar: NICHT aufmachen! Aber der klingelnde Mensch schien das nicht zu begreifen. Voller Wut versuchte er einigermaßen aufrecht stehend die Haustür zu öffnen und wollte schon in der Bewegung losschimpfen. Da stand eine ganz verdatterte Joy mit einer Reisetasche, die nicht glauben konnte, was sie sah. Jens, völlig betrunken, nicht einmal in der Lage, anständig Hallo zu sagen!
„Was ist denn mit dir los?“, fragte sie kichernd. Joy war Magdalenas Busenfreundin und hatte mindestens die Hälfte ihres Lebens, wenn nicht sogar mehr, im Dornbacher Haushalt verbracht. Sie war sozusagen das vierte Kind.
„Die Frage ist eher, was du hier möchtest?“, fragte Jens fast unfreundlich.
Joy erschrak etwas, weil Jens sonst immer sehr freundlich und fröhlich war und sie wie ein Vater behandelte. „Magdalena und ich wollten heute Abend lernen und einen Film anschauen – es war ihre Idee!“, rechtfertigte sie sich.
„Magdalena und auch alle anderen sind nicht da. Sie sind bei Margot in Wiesbaden. Sie hatte einen Herzinfarkt und sie mussten in aller Eile los. Da hat Magdalena dich bestimmt total vergessen.“
„Oje, das tut mir leid. Wie geht es Omi?“ Auch Joy nannte sie Oma, das wollte Margot so, damit sie sich nicht ausgeschlossen fühlte. Joy hatte keine eigene Oma.
„Außer Lebensgefahr!“, murmelte Jens und wollte einfach nur wieder auf seinem Sofa sitzen, weil die Beine ankündigten, dass sie wohl sehr bald ihren Dienst versagen würden.
„Und jetzt?“, fragte Joy. „Meine Mum ist zum Arbeiten gefahren und du kannst mich ja wohl in deinem Zustand nicht nach Hause fahren.“
„Ja, komm rein, du kannst ja trotzdem in Magdalenas Zimmer schlafen.“
Joy hatte sich zu ihm ins Wohnzimmer gesetzt, wo sie sich unterhielten. Daran konnte Jens sich am nächsten Morgen noch ziemlich deutlich erinnern. Er wusste auch noch, dass er trotz des bereits katastrophalen Zustandes immer weiter getrunken hatte.
Joy war eine fröhliche und selbstbewusste Sechzehnjährige, die in letzter Zeit immer wieder mit Jens geflirtet hatte. Er hatte sich immer köstlich darüber amüsiert. Heute Abend war das Gefühl irgendwie ein anderes. Er spürte eine Wut hochschäumen und erwischte sich dabei, wie er dachte, dass sie dieser Charlene doch sehr ähnlich war. Nicht nur äußerlich …
Joy fand seinen Zustand unheimlich lustig und reizte ihn sehr wahrscheinlich ganz unbewusst. Jens trank weiter … und wurde innerlich immer wütender – seine ganze Enttäuschung und seine verletzte Seele nahmen mit zunehmender Betrunkenheit ungeahnte Maße an.
Ja, das war sein allseits bekanntes Problem, weswegen Jens nur selten und dann auch nur wenig Alkohol trank. Er wurde aggressiv und unberechenbar. Er verlor komplett die Kontrolle und es war in seiner Jungend auch schon oft genug zu Handgreiflichkeiten gekommen. Seine Freunde zogen ihn damit gerne auf. Andere wiederum konnten nicht nachvollziehen, dass sich ein so liebenswerter, friedlicher Mensch unter Alkoholeinfluss so extrem verändern kann. Celine sagte einmal, dass es so sei, als ob ein vollkommen anderer Mensch – ein fremder Mensch – vor ihr stehe. Als ob sich ein Engel in ein Monster verwandele.
Jetzt musste Jens sich wirklich unglaublich anstrengen, um die Geschehnisse von gestern Abend zu rekonstruieren. Ja, irgendwann saß da nicht mehr Joy mit sehr knappen Hotpants und einem viel zu tiefen Ausschnitt in einem aufreizenden Schneidersitz auf dem Sofa, sondern Charlene. Ihr Lachen war plötzlich nicht mehr das bis dahin gern gehörte, freche Lachen, sondern Charlenes fieses, spöttisches Siegerlachen.
Jens stand auf und schwankte sehr, was Joy noch mehr belustigte und Jens noch mehr reizte. Dann sah er sich plötzlich auf „Charlene“ zustürzen und sie mit allen Kräften, die ihm noch zur Verfügung standen, vergewaltigen. Immer wieder keuchte er: „So, jetzt hab ich dich wirklich vergewaltigt – jetzt hast du das, was du verdient hast, du elendes Luder!“ Ganz deutlich sah Jens die Szene plötzlich vor sich und ihm wurde schwarz vor Augen. Verdammt, ich habe Joy vergewaltigt!
Mühsam sammelte er seine Kräfte und schob den geschundenen Körper die Treppe hoch, um in Magdalenas Zimmer nach Joy zu schauen. Natürlich war sie da nicht. Doch wohin konnte das Kind nur mitten in der Nacht gegangen sein? Die Mutter war Krankenschwester und hatte Nachtschicht. Sofort rief er auf Joys Handy an – aber es meldetet sich nur die Mailbox. Zu Hause bei Watermanns konnte er ja wohl schlecht anrufen. Was sollte er ihrer Mutter nur sagen? Sie war seiner Familie und ihm insbesondere sowieso nicht wohlgesinnt. Was zum Teufel hatte er nur angestellt? Noch gestern vor etwas über vierundzwanzig Stunden war sein Leben vollkommen in Ordnung, nein, es war perfekt gewesen!
Was sollte er jetzt tun? Er konnte sich nicht konzentrieren, war völlig aufgewühlt und verzweifelt, weil er ab dem Punkt der Vergewaltigung überhaupt keine Erinnerung mehr hatte. Wie sehr er sein Gehirn auch anstrengte – er versuchte es auszupressen wie eine Zitrone –, es gab einfach keine Informationen, keine Bilder, noch nicht einmal Ahnungen für den Zeitraum danach her. Was hatte er Joy angetan, wo war sie nur? Er konnte ja auch schlecht in der Schule anrufen – aber er konnte hinfahren! Wie sollte er dem Mädchen, das wie eine Tochter für ihn war, nur jemals wieder in die Augen schauen?
Gerade als er sich einigermaßen zurechtgemacht hatte und sich im Spiegel zumindest teilweise identifizieren konnte, klingelte sein Handy. Er nahm es schnell zur Hand – aber es war Celine, die ihm mitteilen wollte, dass sie noch ein paar Tage bleiben werde und ob er am Sonntag kommen und dann die Kinder wieder mitnehmen könne. Oh Gott, es gab so vieles zu regeln, aber zuerst musste er mit Joy reden. Er hatte keinen Nerv dafür, jetzt mit Celine über Familienorganisation zu reden, und war sehr kurz angebunden, was den Eindruck erwecken sollte, dass er wirklich sehr unter Stress stand. Celine kannte ihn so wirklich nur in Extremsituationen, die es selten gab, deshalb reagierte sie auch richtig, indem sie sich schnell verabschiedete.
„Oh, Schatz, ich merke, du hast Druck. Na ja, solange der Franzose da ist, wirst du wohl kaum eine freie Minute haben. Nur eines noch: Joy wollte bei uns schlafen und Magdalena hat vor lauter Schreck vergessen ihr Bescheid zu geben. Aber du warst ja sicher noch groß aus zum Essen und Feiern. Vermutlich hast du sie gar nicht gesehen. Leider ist sie auf ihrem Handy nicht erreichbar und nun hat Magdalena Angst, dass sie böse ist. Sie wird sie nach der Schule zu Hause anrufen. Ich sag in der Schule Bescheid, dass die Kinder erst am Montag wieder in den Unterricht kommen werden. Also Liebling, halt die Ohren steif und bis später.“
„Oh, ich werde schlecht erreichbar sein, bitte ruf nicht an, ich werde mich bei dir melden. Im Büro sind alle genervt, weil der Franzose so einen Wirbel macht, und Melzer ist auch auf hundertachtzig. Grüß alle lieb von mir und gute Besserung für Margot. Ich vermisse euch – ich liebe euch und vor allem dich!“
Danach hatte er wenigstens ein etwas besseres Gefühl, dass Celine nicht argwöhnisch werden und sich Gedanken machen würde. Es schien so, als ob am Ende des Gespräches alles so wie immer war, nur dass Jens eben sehr, sehr gestresst war. Was für Celine mehr als verständlich war, wie er sie kannte. Sie war eine so wunderbare Frau – das Beste, was ihm passieren konnte.
Nun war diese Seite für eine Weile ruhiggestellt. Jetzt musste er Schritt für Schritt planen, was er alles zu bedenken hatte. Zuerst meldete er sich im Büro krank, dann machte er sich auf den Weg zur Schule, um Joy auf jeden Fall rechtzeitig abzupassen. Wie würde sie reagieren, was sollte er sagen? Wie konnte man sich für so etwas entschuldigen? Da gab es keine Entschuldigung – er hatte sich in seinem ganzen Leben noch nie so geschämt und so hilflos gefühlt. Er konnte noch nie verstehen, was einen Mann dazu bringen konnte, eine Frau zu missbrauchen. Vergewaltiger hatte er immer als Schwerverbrecher beschimpft und hätte als gerechte Strafe gern die Entfernung des kleinen Mannes gesehen.
Читать дальше