„Mein guter, teurer Schnupftabak!“, ruft Forstmeister Sägebrecht entsetzt und presst seinen dicken Zeigefinger so fest auf das Loch, dass kein einziger Krümel es mehr schafft, zu entfliehen. Mit dem Zeigefinger auf dem Loch in der Dose rennt er dann, so schnell ihn seine alten Beine tragen, zu seinem Rucksack, den er ein Stück weiter weg an einem Buchenstamm abgelegt hat. Der gute Schnupftabak muss gerettet werden, koste es, was es wolle. Und unser Forstmeister hat auch schon eine Idee. Im Inneren des Rucksackes befindet sich neben verschiedenen Sachen, die ein Forstmeister eben so braucht, wie Jagdmesser, Feldflasche und Regenumhang, auch ein leckeres Vesperbrot, welches Frau Forstmeisterin Sägebrecht heute Morgen liebevoll mit Schinken und Käse belegt hat. Dabei erinnert er sich noch gut an ihre Worte.
„Waldemar, hör mir zu! Deine Vesperdose ist kaputt. Ich verpack dein Vesperbrot heute ausnahmsweise in eine Aluminiumfolie und besorge dir heute noch im Supermarkt eine neue Dose.“ So hat seine Waldtraud heute Früh doch gesprochen. Frau Sägebrecht denkt sehr umweltbewusst und will die wertvolle Alufolie wirklich nur für diesen Notfall als Vesperbrotverpackung benützen.
Diese Alufolie soll nun der Notbehälter für seinen Schnupftabak werden. Mit der freien Hand wickelt Forstmeister Sägebrecht umständlich die Folie von der Brotstulle und lässt Brot, Käse und Schinken fast achtlos in den Rucksack zurückgleiten. Bis zur Brotzeit geht es auch ohne Verpackung. Vorsichtig nimmt er jetzt den Finger von dem Loch und lässt sein geliebtes Pulver behutsam in die Alufolie rinnen.
„Eins, zwei, drei, da noch zwei Krümel und hier noch drei Körnchen und da hinten in der Ecke ist ja noch eine ganze Portion, aber jetzt – das dürfte alles gewesen sein“, murmelt er erleichtert, als das Pulver endlich sicher in der Folie aufbewahrt ist. Bevor er die Folie aber sorgfältig zusammenfaltet und in der Seitentasche seines Rucksackes verstaut, nimmt er erst noch einmal eine deftige Prise. Anschließend schnäuzt er sich kräftig in sein Taschentuch und noch während des Schnäuzens beschließt er, sich zu seinem Geburtstag eine neue Schnupftabakdose zu wünschen. Nach diesem Beschluss und mit dem guten Gefühl, dass sein Schnupftabak sicher verwahrt ist, wendet er sich wieder seiner Arbeit zu.
„So, Sägebrecht, jetzt wird es aber höchste Zeit weiterzumachen, sonst wird es Feierabend und die verflixte Fichte ist immer noch nicht zersägt“, brummt er in sich hinein und hat es auf einmal sehr eilig, zu seiner Motorsäge zurückzukehren, die er achtlos auf dem Waldboden zurückgelassen hat.
Gut versteckt im Blättergewirr der Buche hat Emil Elster das ganze Geschehen mit wachsendem Interesse verfolgt. Zuerst war es ja nur der Rucksack, der ihn hierhergelockt hat. Dieser grüne Rucksack, der direkt unter ihm am Stamm der Buche lehnt. Emil weiß, dass grüne Männer immer grüne Rucksäcke dabeihaben, und er weiß auch, dass in diesen Rucksäcken immer etwas Essbares steckt. Mehr als einmal ist es Emil gelungen, sich aus so einem Rucksack zu bedienen, und es waren bestimmt nicht die schlechtesten Mahlzeiten in seinem Elsternleben. Doch im Augenblick hat die Nahrungsaufnahme für Emil keinerlei Bedeutung. Schuld daran ist dieses wunderschöne, glänzende Ding, das aus der offenen Seitentasche des Rucksacks hervorlugt und verführerisch zu ihm hochfunkelt. Was für ein Schatz. Angesichts dieser Schönheit wäre jeder Gedanke an schnödes Essen geradezu vulgär. Nervös trippelt Emil von einem Krallenfuß auf den anderen. Wie gerne würde er sich das glänzende Schmuckstück jetzt sofort holen. Ganz behutsam würde er es aus der Tasche herausziehen und dann … Aber er weiß, es ist noch zu früh. Schweren Herzens muss er sich zurückhalten. Zumindest noch so lange, bis der grüne Mann wieder mit seinem Baum beschäftigt ist. Leise und beschwörend schäckert Emil in sich hinein, als könne er das Tun des grünen Mannes damit beeinflussen.
„Täk, täk, grüner Mann, auf was wartest du denn noch, geh doch zu deinem Baum und lass dem guten Emil den glänzenden Schatz, täk, täk.“
Eine kurze Weile passiert gar nichts, aber dann hallt plötzlich das Kreischen der Motorsäge durch den Wald und zeugt davon, dass der grüne Mann wieder die sinnlose Tätigkeit aufgenommen hat, einen Baum in kleine Stücke zu zerlegen. Emils Beschwörungen wären dazu aber sicher nicht notwendig gewesen, denn grüne Männer tun ja schließlich nie etwas anderes, als Bäume zu zerlegen.
Als Freund der schönen Künste verachtet Emil natürlich solche unsinnigen Beschäftigungen und wer so etwas macht, der kann einfach keinen Anspruch auf glänzende Kunstgegenstände haben. Sowieso wäre der Schatz in seiner Sammlung viel besser aufgehoben.
Seelisch und moralisch gestärkt durch diese Elsternlogik wirft Emil noch einen Blick in Richtung des grünen Mannes, aber der ist hinter den Bäumen verschwunden und nur der Lärm der Motorsäge verrät, dass er noch da ist.
So lange das knatternde Ding zu hören ist, kann von dem grünen Mann keine Gefahr drohen, so kombiniert Emil und macht sich daran, den ersehnten Schatz endlich in seinen Besitz zu bringen. Eilig breitet er die Schwingen aus und lässt sich wie ein Stein in die Tiefe fallen, vom betörenden Glanz des Schatzes magisch angezogen.
Die Landung auf der Rucksackspitze erfolgt weniger magisch und schon gar nicht elegant, denn der labbrige Stoff bietet kaum feste Standfläche. Nur mit viel Geflatter schafft es Emil, sich so auszubalancieren, dass er nicht sofort wieder herunterfällt. Schwer atmend thront er auf der Rucksackspitze und schielt verlangend nach der offenen Seitentasche, die das Objekt seiner Begierde enthält. Der Schatz ist zum Greifen nah. Emil verharrt noch einen kurzen Flügelschlag lang, um den Anblick aus dieser Nähe zu genießen. Wie er doch glitzert und leuchtet. Dann bückt er sich vorsichtig, öffnet den Schnabel und umfasst blitzschnell, aber doch mit viel Gefühl, den wunderbaren Schatz. Wie gut sich das doch anfühlt. Gerade will Emil den Schatz aus der Tasche ziehen und somit endgültig in seinen Besitz bringen, da verdunkelt sich der Himmel über ihm.
Ein heftiger Stoß in die Seite nimmt ihm den Atem und wirft ihn hochkant vom Rucksack herunter. Der Angriff kam so überraschend, dass er vergisst die Flügel zu benützen, um den Sturz abzumildern. Hart schlägt Emil auf dem Boden auf, kommt aber strampelnd und flatternd sofort wieder auf die Füße. Erst jetzt erkennt er den heimtückischen Angreifer, der, höhnisch krächzend, seinen Platz auf der Rucksackspitze eingenommen hat. Es ist ein großer, schwarzer Vogel, ein Schwarzbefrackter von der allerschlimmsten Sorte. Es ist Korax Krähe, geistig nicht der Hellste, aber ein übler Rabauke und Elsternhasser. Das Schlimmste aber ist, dass diese Dummkrähe seinen kostbaren Schatz im Schnabel hat. Sorgfältig legt Korax den Schatz vor sich auf den Rucksackstoff und hält ihn mit dem rechten Krallenfuß fest. Dann plustert er sich mächtig auf.
„Kraab, kraaab, Emil, mach mal den Flattermann, aber im Schnellflug! Ich habe Hunger und in solchem glänzenden Plunder steckt immer was zu essen. Also verschwinde, wenn dir deine albernen schwarzweißen Federn lieb sind, kraaab, kraaab!“
Schon beginnt Korax Krähe den silbernen Schatz mit dem Schnabel zu bearbeiten, um an die erhoffte Mahlzeit zu kommen. Emil kocht vor Wut über diese unfassbare Unkultiviertheit. Der rüpelhafte Schwarzbefrackte ist größer und stärker als er, aber das ist ihm in diesem Moment vollkommen egal. Mit wildem Geschäcker flattert er senkrecht in die Höhe.
Oben angekommen, legt er die Flügel an und stürzt sich mit vollem Schwung auf den verdutzten Schwarzbefrackten herab, der nicht mit Gegenwehr gerechnet hat. Emil hat Glück und sein zuschlagender Flügel trifft den stärkeren Widersacher so hart, dass dieser den Schatz loslässt und flügelschlagend um sein Gleichgewicht ringt. Wieder steigt Emil steil nach oben, will jetzt den wütend krächzenden Schwarzbefrackten endgültig von seinem Sockel stoßen. Doch der ist dieses Mal besser vorbereitet. Bevor Emil ihn erreichen kann, schnappt er sich den Schatz mit dem Schnabel und flattert vom Rucksack herunter, um den Gegner auf hartem Boden zu erwarten. Dort wird der ungeliebte Verwandte keine Chance gegen ihn haben. Unten angekommen, macht er sich bereit und faucht dem anfliegenden Emil drohend entgegen.
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