Roderick E. McGrew (1985),
Encyclopedia of Medical History 38
Warum haben sich die epidemischen Modelle in Großbritannien in vier Jahrhunderten nicht verändert – Jahrhunderte, in denen die Geschwindigkeit des menschlichen Transports stark zugenommen hat?
Dr. John J. Cannell (2008),
„On the Epidemiology of Influenza“ aus: Virology Journal
Die Rolle des Virus, das nur die Atemwege infiziert, hat einige Virologen verblüfft, da Influenza nicht nur oder nicht einmal hauptsächlich eine Atemwegserkrankung ist. Warum die Kopfschmerzen, die Augen- und Muskelschmerzen, die Erschöpfung, die gelegentliche Sehbehinderung, die Berichte über Enzephalitis, Myokarditis und Perikarditis? Warum Fehlgeburten, Totgeburten und Geburtsdefekte? 39
In der ersten Welle der Pandemie von 1889 in England standen neurologische Symptome im Vordergrund, während die respiratorischen Symptome ausblieben. 40Die meisten der 239 Grippepatienten von Amtsarzt Röhring im bayerischen Erlangen hatten neurologische und kardiovaskuläre Symptome und keine Atemwegserkrankung. Fast ein Viertel der zum 1. Mai 1890 in Pennsylvania gemeldeten 41.500 Grippefälle wurden primär als neurologisch und nicht respiratorisch eingestuft. 41Nur wenige Patienten von David Brakenridge in Edinburgh oder von Julius Althaus in London hatten Atembeschwerden. Stattdessen litten sie an Schwindel, Schlaflosigkeit, Verdauungsstörungen, Verstopfung, Erbrechen, Durchfall, „völlige[r] Erschöpfung der geistigen und körperlichen Stärke“, Neuralgie, Delirium, Koma und Schüttelkrämpfen. Nach der Genesung verblieben viele Beschwerden wie Neurasthenie oder sogar Lähmungen oder Epilepsie. Anton Schmitz veröffentlichte einen Artikel mit dem Titel „Wahnsinn nach Influenza“ und schlussfolgerte, dass Influenza in erster Linie eine epidemische Nervenkrankheit war. C. H. Hughes nannte Influenza eine „toxische Neurose“. Morell Mackenzie stimmte zu:
Meiner Meinung nach liegt die Antwort auf das Rätsel der Influenza in vergifteten Nerven … In einigen Fällen erfasst sie den Teil (des Nervensystems), der die Atmungsmaschinerie steuert, in anderen den Teil, der die Verdauungsfunktionen kontrolliert; bei anderen scheint es gewissermaßen so, als würde an nervösen Tasten hinauf- und hinuntergespielt, um so den empfindlichen Mechanismus zu stören und Unordnung und Schmerzen in verschiedenen Körperteilen mit einer fast böswilligen Willkür aufzuwirbeln … Da die Nahrung für jedes Gewebe und jedes Organ im Körper unter der direkten Kontrolle des Nervensystems steht, folgt daraus, dass alles, was das Letztere betrifft, eine nachteilige Wirkung auf das Erstere hat. So ist es nicht verwunderlich, dass die Influenza in vielen Fällen ihre Spuren durch eine beschädigte Struktur hinterlässt. Nicht nur die Lunge, sondern auch die Nieren, das Herz und andere innere Organe sowie die Nervenmasse selbst können auf diese Weise betroffen sein. 42
Anstalten für Geistesgestörte füllten sich mit Patienten, die an der Influenza erkrankt waren; Menschen, die unterschiedlich stark an Depressionen, Manie, Paranoia oder Halluzinationen litten. „Die Zahl der Aufnahmen erreichte ein nie zuvor gesehenes Ausmaß“, berichtete Albert Leledy 1891 in der Beauregard Anstalt in Bourges. „Die Aufnahmen für das Jahr übertreffen die des Vorjahres“, berichtete Thomas Clouston, Superintendierender Arzt der Anstalt Royal Edinburgh Asylum for the Insane im Jahr 1892. „Keine Epidemie einer Krankheit hat solche mentalen Auswirkungen gehabt“, schrieb er. Im Jahr 1893 überprüfte Althaus zahlreiche Artikel über Psychosen nach Influenza und die Vorgeschichte von Hunderten seiner eigenen und anderer Patienten, die in den letzten drei Jahren nach der Grippeerkrankung geistig gestört waren. Es erstaunte ihn, dass sich die meisten Psychosen nach Influenza bei Männern und Frauen in der Blütezeit ihres Lebens zwischen 21 und 50 Jahren entwickelten, dass sie am wahrscheinlichsten nach meist milden oder leichten Erkrankungsfällen auftraten und dass mehr als ein Drittel dieser Menschen noch nicht genesen war.
Die häufige Abwesenheit von Atemwegserkrankungen wurde auch bei der noch tödlicheren Pandemie von 1918 festgestellt. In seinem Lehrbuch von 1978 schrieb Beveridge, der sie miterlebt hatte, dass die Hälfte aller Influenzapatienten bei dieser Pandemie keine der frühen Symptome wie Nasenausfluss, Niesen oder Halsschmerzen hatte. 43
Die Altersgruppen sind ebenfalls nicht ausschlaggebend, wenn es hier um eine Ansteckung gehen soll. Bei anderen Arten von Infektionskrankheiten wie Masern und Mumps gilt: Je aggressiver ein Virusstamm ist und je schneller er sich ausbreitet, desto schneller bauen Erwachsene Immunität auf und desto jünger ist die Bevölkerung, die jedes Jahr an ihm erkrankt. Laut Hope-Simpson bedeutet dies, dass während der Zeit von Pandemien die Influenza hauptsächlich sehr kleine Kinder angreifen sollte. Aber die Influenza trifft nach wie vor hartnäckig die Erwachsenen. Das Durchschnittsalter liegt fast immer zwischen zwanzig und vierzig, egal ob während einer Pandemie oder nicht. Das Jahr 1889 war keine Ausnahme: Die Influenza erwischte bevorzugt starke junge Erwachsene in der Blütezeit ihres Lebens, als würde sie böswillig die Stärksten anstelle der Schwächsten unserer Spezies ins Visier nehmen.
Dann gibt es die Verwirrung über Tierinfektionen, die Jahr für Jahr in den Nachrichten auftauchen und uns alle Angst machen, dass wir durch Schweine oder Vögel mit Influenza infiziert werden könnten.
Die unangenehme Tatsache ist jedoch, dass im Laufe der Geschichte seit Tausenden von Jahren alle Arten von Tieren gleichzeitig mit Menschen an der Grippe erkrankt sind. Als die Armee des bayerischen Königs Karlmann 876 n. Chr. an der Influenza erkrankte, dezimierte dies auch die Hunde und Vögel. 44In späteren Epidemien, einschließlich der des 20. Jahrhunderts, wurde allgemein berichtet, dass bei Hunden, Katzen, Pferden, Maultieren, Schafen, Kühen, Vögel, Hirschen, Kaninchen und sogar Fischen Erkrankungen zur gleichen Zeit wie bei den Menschen ausbrechen. 45Beveridge nannte zwölf Epidemien im 18. und 19. Jahrhundert, in denen Pferde an der Grippe erkrankten, generell ein oder zwei Monate vor den Menschen. Tatsächlich wurde diese Verbindung als so zuverlässig angesehen, dass Symes Thompson Anfang Dezember 1889, als er eine grippeähnliche Krankheit bei britischen Pferden beobachtete, an das British Medical Journal schrieb und einen bevorstehenden Ausbruch beim Menschen vorhersagte – eine Prognose, die sich kurze Zeit später als richtig erwies. 46Während der Pandemie von 1918–1919 kamen Affen in Südafrika und Madagaskar in großer Zahl ums Leben, auch Schafe im Nordwesten Englands, Pferde in Frankreich, Elche im Norden Kanadas und Büffel in Yellowstone. 47Das ist aber ohnehin kein Geheimnis. Weder bekommen wir die Grippe von Tieren, noch bekommen die Tiere sie von uns. Wenn Influenza durch abnormale elektromagnetische Bedingungen in der Atmosphäre verursacht wird, sind alle Lebewesen gleichzeitig betroffen, einschließlich Lebewesen, die nicht dieselben Viren teilen oder eng zusammen leben.
Was die Entlarvung des Eindringlings, d. h. der Influenza, so erschwert, ist, dass es sich hierbei um zwei verschiedene Dinge handelt. Influenza ist erstens ein Virus und zweitens auch eine klinische Krankheit. Die Verwirrung entsteht, weil die menschliche Influenza seit 1933 durch den in diesem Jahr entdeckten Organismus und nicht durch klinische Symptome definiert wird. Wenn eine Epidemie auftritt und Sie an derselben Krankheit leiden wie alle anderen, aber ein Influenzavirus nicht aus Ihrem Hals isoliert werden kann und Sie keine Antikörper dagegen entwickeln, haben Sie angeblich keine Influenza. Tatsache ist jedoch, dass Influenzaviren zwar auf irgendeine Weise mit Krankheitsepidemien assoziiert werden, aber es wurde nie bewiesen, dass sie diese verursachen.
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