Aber Marcuse wollte und sollte das Institut in der US-amerikanischen Öffentlichkeit repräsentieren. Nicht nur auf den Gängen des Geheimdienstes in Washington, sondern schon in den Hallen der Columbia University vertrat Marcuse kompetent und repräsentativ die Auffassungen des Instituts. Die Universitätsvorlesungen der Institutsmitarbeiter über Nationalsozialismus im Jahre 1941 leitete er ein. Deutschland wurde im Institut nicht als bizarres Modell eines Sonderwegs studiert, sondern als eine historisch spezifische Form des Endes der liberalkapitalistischen Ära. Die Präsentation einer an der Totalität der Gesellschaft orientierten Theorie mußte der Hörerschaft als europäische, wenn nicht gar deutsche Spezialität erscheinen; aber es ist keineswegs so, wie oft behauptet, daß die amerikanischen Sozialwissenschaften damals schon ein empiristisch gesichertes Selbstverständnis gefunden hätten, das jedem theoretischen Nachdenken über die Gesellschaft extrem feindlich gegenüberstand. Die Sozialwissenschaften erlebten in den USA mit Roosevelts New Deal, der einen Ausweg aus der Existenzkrise des Kapitalismus finden sollte, einen unerhörten Aufschwung, zu dem jedes europäische Know How willkommen war. Allen antiamerikanischen Vorurteilen zum Trotz haben auch die im Auftrag des US-Geheimdienstes gewonnenen Erkenntnisse zum Begreifen einer veränderten gesellschaftlichen Wirklichkeit beigetragen. Die Dialektik von instrumentell organisierter Wissenschaft und Möglichkeit kritischer Gesellschaftstheorie haben Horkheimer und Adorno als Dialektik der Aufklärung gefaßt – aber eben als Dialektik, nicht als abstrakten einfachen Gegensatz. Ohne Dialektik lassen sich die Einsichten der Kritischen Theorie in die Mechanismen der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland überhaupt nicht verstehen. Man merkt es diesen Arbeiten Marcuses an, daß er vor der schwierigen Aufgabe stand, einer intellektuell anders geschulten Öffentlichkeit die theoretischen Anstrengungen des Instituts zu vermitteln. Das gibt der Lektüre über ein halbes Jahrhundert danach einen besonderen Reiz – in einer Welt, in der Dialektik im Alltagssprachgebrauch zu einer Art Schimpfwort geworden ist. Bei allen in diesem Buch versammelten Texten handelt es sich um die Analyse der Gegenwart, die zwar deren Genese berücksichtigt, aber sie nicht auf diese Entstehungsbedingungen reduziert. Was sich wie ein sozialwissenschaftlicher Gemeinplatz anhört, gehört keineswegs zur heute gängigen Diskussionspraxis. Das öffentliche Reden über den Nationalsozialismus ist in Deutschland seit dem Historikerstreit eher von einer Abwehr jeder gesellschaftstheoretischen Reflexion gekennzeichnet.
Marcuses Texte zum Nationalsozialismus betonen Einheit und Differenz von moderner Gesellschaft in Deutschland und der übrigen westlichen Welt. Die Naziideologie wird weder mit der Realität verwechselt noch wird sie mit den Mitteln der klassischen Ideologiekritik bearbeitet; es wird versucht, ihre soziale Funktion zu bestimmen. Deswegen sucht Marcuse auch nach neuen Kategorien: In einer Fußnote schlägt er »Haltung« als terminus für die neue Mentalität vor. Weder bringt der Nationalsozialismus ein theoretisches Bewußtsein hervor, das in Praxis umgesetzt wird, noch produziert er überhaupt ein an Wahrheit orientiertes Bewußtsein. Die Nationalsozialisten beabsichtigten gerade, das Bewußtsein von allen metaphysischen Relikten zu reinigen. Damit wurden sie aber auch unfähig, einen neuen Glauben zu erzeugen – sie kombinierten Pragmatismus und Mythologie. Der Pragmatismus bezieht sich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit auf die technologische Modernisierung der Gesellschaft; die Mythologie auf den Primat des Politischen in der Neuen Ordnung. Das Tausendjährige Reich legitimierte sich nicht durch die Vergangenheit, sondern durch den Kampf gegen die Vergangenheit: Ganz Gegenwartsgesellschaft, bricht der Nationalsozialismus mit der Tradition.
Zusammengehalten wird das nationalsozialistische Deutschland nicht durch den Glauben, sondern durch die Angst vor der Katastrophe. In dem Memorandum zur »New German Mentality« erscheinen schon die Eigenschaften der nachnationalsozialistischen Deutschen – die abgebrühte Tatsachengläubigkeit (matter-of-factness) und die »psychologische Neutralität«, der schon die Naziproganda Rechnung tragen mußte. Die post-festum Literatur über den Nationalsozialismus hat sozialwissenschaftliche Artefakte geschaffen, die durch die Marcusetexte wieder infragegestellt werden. Marcuses mit sublimierter Leidenschaft geschriebenen Gegenwartsanalysen des Nationalsozialismus wirken fünfzig Jahre danach unerwartet frisch, eben weil das Erschrecken über die Gegenwart noch nicht auf falsche Weise mit den Vorstellungen des Common Sense versöhnt worden ist. Schon damals mußte Marcuse sich mit verzerrt ideengeschichtlichen Begründungen des Nationalsozialismus aus der kulturellen Tradition des deutschen Sonderweges auseinandersetzen, die heute wieder beliebt sind. Diese Argumentationen werden weder dem besonderen Charakter des Nationalsozialismus noch der spezifischen Gestalt der deutschen Kultur gerecht, die im Nationalsozialismus untergeht.
Nicht im Zentrum der Deutschlandanalysen stehen die nationalsozialistischen Verbrechen an den Juden. Sie gehören in die Planungen der Antisemitismusprojekte des Instituts, die damals parallel in Angriff genommen wurden. Die hier veröffentlichten Deutschlandanalysen Marcuses ergeben weder eine abgeschlossene Theorie des Nationalsozialismus noch tragen sie der Bedeutung von Auschwitz Rechnung. 6Deutlich benannt wird aber im Unterschied zu gängigen Faschismustheorien der Charakter des Nationalsozialismus: Im Zentrum des neuen Systems steht das Verbrechen, nicht der Profit. Dennoch besitzt der Nationalsozialismus eine eigene erkennbare Logik. Die Benennung größerer gesellschaftlicher Gruppen, die vom Verbrechen profitieren, geschieht in einer konkreten Analyse der deutschen Gestalt des Profitsystems und der es praktizierenden »Volksgemeinschaft«. Marcuse faßt die »Rationalisierung des Irrationalen« als die politische Technik nationalsozialistischer Herrschaft. Die rationalistischen Überzeugungen der deutschen Opposition vom »unterdrückten Volk« oder »unterdrückten Klasse«, die sich nur dem Terror beugt, müssen über Bord geworfen werden. Die Erkenntnis, daß viele Menschen sich von einer übermächtig empfundenen, technologisch verkleideten Herrschaft angezogen fühlen, wenn sie dazugehören dürfen, weist über den Nationalsozialismus hinaus in die Zukunft. »Sachzwang« und »Leistungsprinzip« lassen auch nicht mehr das rationale Verständnis von gefesselten Produktivkräften zu, die in Freiheit gesetzt werden müssen. Die Politik des Totalen Krieges hat den Produktionsapparat entfesselt – nicht nur im nationalsozialistischen Deutschland, sondern auch in den ihm feindlichen Ländern. Deshalb wird in der nachfaschistischen Ära die Tendenz zum Totalitarismus allgemein. 7
Die unterschiedlichen Versuche der Institutsmitglieder Franz Neumann, Herbert Marcuse, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, den Nationalsozialismus zu begreifen, fassen diese Gesellschaft dialektisch als eine Gesellschaft des Übergangs, die noch Kennzeichen des alten Liberalismus, aber auch Anzeichen des Neuen trägt. Die konkrete Wahrnehmung der ungeheuren Verbrechen des Nationalsozialismus verdeckt nicht die Beziehung dieser totalitären Gesellschaft zur modernen gesellschaftlichen Normalität. Manches, was Marcuse über den nationalsozialistischen Alltag sagt, klingt nicht nur wie die Vorwegnahme des »Eindimensionalen Menschen«, sondern sogar als Antizipation von Tendenzen, die erst jetzt Wirklichkeit werden. Ist die repressive Aufhebung von Tabus nicht ein Merkmal der Neuen Welt, in der wir als Zeitgenossen leben? Erscheint das Zerrbild einer befreiten Menschheit, in dem Sex und Kunst zu entgifteten stimuli einer konformistischen Ordnung geworden sind, nicht erst am Ende der Wohlstandsgesellschaft? Erst recht erinnert Marcuses Beschreibung einer Welt, in der die Emanzipation der Ökonomie die der Menschen ersetzt, an die Gegenwart der globalisierten Weltwirtschaft.
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