Zum Konzept der Nachlaßausgabe gehört es, gelegentlich Schriftstücke aus dem Archiv zu faksimilieren oder Fotos abzudrucken. Leider befinden sich so gut wie keine Bilder im Marcuse Archiv. Umso erfreulicher ist es, daß nach einigen Recherchen der Bildbestand etwas vergrößert werden konnte. Dazu gehören auch Kinderfotos von Herbert Marcuse und seiner Schwester Erna, die hier erstmals abgedruckt werden. Nicht nur für dieses großzügige Entgegenkommen möchte ich mich bei Peter Marcuse und seiner Familie bedanken.
Peter-Erwin Jansen
im April 2007
Nachweise und Anmerkungen
1
Rezensionen erschienen in allen großen Printmedien, Fernsehberichte im Hessischen Rundfunk und 3 Sat. Wolfram Stender schrieb im Mittelweg : » Feindanalysen ist ein Buch von nicht nur dokumentarischem Wert. Marcuses Studien über die Deutschen lesen sich über weite Strecken wie ein Beitrag zur aktuellen Diskussion über Hitlers willige Vollstrecker. Das Buch kommt zur rechten Zeit. Es widerlegt das mittlerweile gängige Vorurteil, die Kritische Theorie habe die nazistische Gegen-Ratio einseitig auf dem Konto von moderner Ökonomie und rationaler Bürokratie verbucht. Marcuse argumentiert differenzierter.« Wolfram Stender, Rezension, Feindanalysen. Über die Deutschen . In: Mittelweg 36, Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Juni/Juli Heft 3, 1998, Dokumente S. 2.
2
Herbert Marcuse, Nachgelassene Schriften. Band 1: Das Schicksal der bürgerlichen Demokratie . Herausgegeben und mit einem Vorwort von Peter-Erwin Jansen. Einleitung Oskar Negt. Aus dem Amerikanischen von Michael Haupt, Lüneburg 1999.
3
Auszüge daraus erschienen in der TAZ, 13. 10. 2000, S. 16 - 17.
4
Franz Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933 - 1944 , Köln – Frankfurt am Main 1977.
5
Carl E. Schorske im November 1998 auf der Konferenz »The Legacy of Herbert Marcuse« an der University of California in Berkeley. Zur Arbeit Marcuses und der Gruppe um Neumann im OSS siehe auch: Peter-Erwin Jansen, Deutsche Emigranten in amerikanischen Regierungsinstitutionen . In: Zwischen Hoffnung und Notwendigkeit. Texte zu Herbert Marcuse . Peter-Erwin Jansen und Redaktion Perspektiven (Hg.), Frankfurt/Main 1999, S. 39 – 59.
6
Veröffentlicht in: Herbert Marcuse, Technology, War and Fascism . Douglas Kellner (Hg.), New York 1998.
7
Rolf Wiggerhaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte. Theoretische Entwicklung. Politische Bedeutung , München 1986, S. 332 ff.. Siehe auch den einleitenden Kommentar zu Staat und Individuum im Nationalsozialismus.
8
Vgl. Christof Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler. Das Dritte Reich im Visier des amerikanischen Geheimdienstes , 1941 – 1945, Stuttgart 1999; Saul K. Padover, Lügendetektor. Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45 , Frankfurt/Main 1999; Stefanie Middendorf, »Verstoßenes Wissen«. Emigranten als Deutschlandexperten im OSS und im amerikanischen Außenministerium 1943 – 1995 , in: Neue Politische Literatur 46, Frankfurt 2001. Carl Zuckmayer, Geheimreport . Gunther Nickel und Johanna Schrön (Hg.), Göttingen 2002; Heike Bungert u. a. (Hg.), Secret Intelligence in the Twentieth Century . Foreword by Nigel West, New York 2003; Lucas Delattre, Fritz Kolbe. Der wichtigste Spion des Zeiten Weltkriegs , München 2004; Carl Zuckmayer, Deutschlandbericht für das Kriegsministerium der Vereinigten Staaten von Amerika , Gunther Nickel, Johanna Schrön, Hans Wagner (Hg.), Göttingen 2004.
Einleitung
Kopf der Leidenschaft Herbert Marcuses Deutschlandanalysen
von Detlev Claussen
»Krieg den deutschen Zuständen! … Mit ihnen
im Kampf ist die Kritik keine Leidenschaft des
Kopfs, sie ist der Kopf der Leidenschaft.«
Karl Marx 1844
Mit welchen Augen man eine Flaschenpost liest, hängt vom Zeitpunkt ab, an dem die Flasche entkorkt wird. Lange Zeit waren die Studien zum Nationalsozialismus, die kritische Theoretiker im Exil unternommen hatten, verschwunden. Der Ende der vierziger Jahre nach Deutschland zurückgekehrte Max Horkheimer wollte die Botschaften, die einst in den USA aufgegeben worden waren, gar nicht mehr veröffentlicht wissen. Die nach Amerika gerettete »Zeitschrift für Sozialforschung« war verschwunden, die in Kalifornien entstandene »Dialektik der Aufklärung« kursierte in einer Handvoll xerografierter Exemplare unter deutschsprachigen Emigranten. Die 1947 in Amsterdam gedruckten Exemplare erreichten die neue westdeutsche Öffentlichkeit nicht mehr. An dieser philosophischen Gemeinschaftsarbeit hatte Herbert Marcuse zu Beginn der vierziger Jahre unbedingt mitarbeiten wollen; aber Zukunftssorgen und Geldnot bewegten Horkheimer und seinen engsten Freund Pollock, ihren Mitarbeiterstab radikal zu verkleinern. Auf Marcuses Manuskript »The New German Mentality« vom Juni 1942 ist als Anschrift Santa Monica, Calif. durchgestrichen und mit Hand ist c/o F. Neumann, 403 West 115, New York City hinzugefügt worden. Während Adorno und Horkheimer an der Pazifikküste –»Weit vom Schuß«, wie Adorno in den »Minima Moralia« schrieb – die »Dialektik der Aufklärung« formulierten, hatte sich Herbert Marcuse für den Dienst an der Ostküste im antifaschistischen Kampf entschieden. Wie sein Freund Franz Neumann trat er in den ersten US-amerikanischen Geheimdienst ein – in den OSS, der in Washington, D. C., seine Baracken aufgeschlagen hatte und an der Ostküste eine Reihe von Büros aufgemacht hatte. 1Die Wege der kritischen Theoretiker im Exil hatten sich getrennt: In Kalifornien aber wurden ebenso wie in Washington enorme intellektuelle Anstrengungen unternommen, um zu begreifen, was in Europa geschah und welche Konsequenzen daraus zu ziehen seien.
Die gemeinsame Wurzel der kalifornischen und der Washingtoner Aktivitäten liegt in der vorangegangenen Praxis des Instituts für Sozialforschung an der New Yorker Columbia Universität, in deren Rahmen auch die ersten Papiere Marcuses zum Nationalsozialismus entstanden sind. Das Überwintern der aus Deutschland geflohenen kritischen Theoretiker im US-amerikanischen Exil ist schon immer geheimnis-, wenn nicht geheimdienstumwittert gewesen. Der Name Kritische Theorie läßt sich sinnvoll auf Max Horkheimer als ihren Begründer zurückführen. Sein auf die deutschsprachige Emigration programmatisch wirkender Aufsatz »Traditionelle und kritische Theorie« erschien 1937 in der im Exil fortgeführten »Zeitschrift für Sozialforschung«. Konstitutiv für die Kritische Theorie ist die Erfahrung einer gescheiterten Revolution. Das gilt nicht erst für die weltgeschichtliche Zäsur, die mit den »Moskauer Prozessen« von 1936 gekommen war.
Von der Wissenschaftsgeschichtsschreibung vernachlässigt wurde das Scheitern der Revolution als entscheidender Impuls kritischer Theoriebildung schon zu Zeiten der Weimarer Republik. Das Gründungsjahr des Frankfurter Instituts für Sozialforschung 1923 fällt definitiv mit dem Ende der revolutionären Kämpfe in Deutschland zusammen. Ohne die zielstrebige Initiative von Max Horkheimer und seinem Freunde Friedrich Pollock, die auch mit Felix Weil den entscheidenden Geldgeber fanden, wäre es nie zur Institutsgründung gekommen. Nicht die Hoffnung auf eine unmittelbar bevorstehende Revolution motivierte sie, sondern eben die Erfahrung des Scheiterns machte ein neues Nachdenken über die Revolution notwendig. Erst die Distanz zur Alltagspraxis der politischen Bewegungen ermöglichte Kritische Theorie. Max Horkheimer wird dieser Zusammenhang erst später im Exil wirklich bewußt und erst dort erfindet er auch den Namen Kritische Theorie. Horkheimers genuine politische Leistung besteht in der bewußten organisatorischen Trennung der Theorie von der Macht. Das unterscheidet ihn von bedeutenden intellektuellen Köpfen zur Zeit der Weimarer Republik – Ernst Bloch, Georg Lukács und Karl Korsch, die alle in schier endlose Beziehungsgeschichten mit der Kommunistischen Partei verstrickt blieben.
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